So gesehen

 

Der Deckel über mir ging auf

und mich traf volles Licht.

Meine Augen warn noch zu,

und etwas blass war mein Gesicht.

Ich konnt mich nicht bewegen,

und mein Hemd war ziemlich eng.

Irgendwie kam es mir auch so vor,

als roch ich etwas streng.

Man packte mich an Kopf und Beinen,

nahm mich aus dem Sarg,

legte mich auf einen Tisch,

wo noch ein Tuch mein Haupt verbarg.

 

So gesehen gings mir gar nicht schlecht.

Dass es immer besser wurde, war mir recht.

Sah mit viel Erfahrung das, was vor mir lag

und genoss so jede Nacht und jeden Tag.

 

Um mich herum war Riesenwirbel:

Ich war im OP.

Man klemmte mir was in den Bauch.

Sofort tat der mir weh.

Nahm mir das Messer aus der Haut,

und gleich war diese glatt.

Mit Tütata fuhr ich nach Hause,

krümmte mich im Bad:

Ging in mein Bett und hab

den ersten Blinddarmreiz gespürt.

Bin eingeschlafen, aufgewacht

und hab dich zart berührt.

 

So gesehen gings mir gar nicht schlecht.

Dass es immer besser wurde, war mir recht.

Sah mit viel Erfahrung das, was vor mir lag

und genoss so jede Nacht und jeden Tag.

 

Bin schmusend mit dir aufgestanden,

zog dich küssend an.

Speiste gut mit dir beim Kerzenschein.

Dann war der Job erst dran.

Gehetze bis zum Frühstück –

furchtbar schnell die Zeit vergeht:

Kinder kommen wieder heim –

und in die Pubertät.

Eingeschult, dann Kindergarten.

Ich mit dunklem Haar.

Hochzeitsnacht, Examen,

dir am Strand unglaublich nah...

 

So gesehen gings mir gar nicht schlecht.

Dass es immer besser wurde, war mir recht.

Sah mit viel Erfahrung das, was vor mir lag

und genoss so jede Nacht und jeden Tag.

 

Der erste Blick, den wir gewechselt.

Meine Gammelzeit.

Gitarre ohne Hornhaut lernen –

Finger tun mir leid.

Die Eltern ziehn zusammen,

haben Zoff und sind versöhnt.

Vater fährt zur See

und ich von Muttern so verwöhnt.

Und schließlich gehts per Kaiserschnitt

ins Dunkle und zum Schluss:

neun Monate im Bauch – Orgasmus:

welch ein Exitus.

 

So gesehen wärs doch gar nicht schlecht.

Wenn es immer besser würde, wärs doch recht.

Mit Erfahrung leben, Jahr um Jahr,

am Ende Lustgenuss – dann einfach nicht mehr da...

 

Copyright 2000 Gerd Schinkel

 

In einem Zitat aus der „Stern“-Rubrik „Worte der Woche“ bezog sich der US-Schauspieler Donald Sutherland im Jahre 2000 vermutlich auf die Novelle „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ von Scott Fitzgerald aus den zwanziger Jahren, als er meinte, das Leben könnte doch viel interessanter und angenehmer sein, ließe es sich rückwärts leben. Nach einer akuten Blinddarm-Operation fielen mir Text und Melodie ein, die ich erstmals mit einer offenen Stimmung begleitete. Inzwischen ist es bei meinen Konzerten oft das Einstiegslied, um dann mit vielen Liedern einen Lebenslauf „richtig herum“ zu besingen.

 

Das Lied lässt ein Leben rückwärts abspulen und im Augenblick höchsten Glücks enden. Das Zitat von Donald Sutherland: "Das Leben sollte mit dem Tod beginnen, nicht andersherum. Zuerst gehst du ins Altersheim, wirst rausgeschmissen, wenn du zu jung wirst, spielst danach ein paar Jahre Golf, kriegst eine goldene Uhr und beginnst zu arbeiten. Anschließend geht's auf die Uni. Du hast inzwischen genug Erfahrung, das Studentenleben richtig zu genießen, nimmst Drogen, säufst. Nach der Schule spielst du fünf, sechs Jahre, dümpelst neun Monate in einer Gebärmutter und beendest dein Leben als Orgasmus." 

Eine faszinierende Vorstellung, die mich nach einem anderen Erlebnis den Text "So gesehen" schreiben ließ, in dem ich diese Idee ein wenig variiert habe. Die Vertonung machte mir zusätzliches Vergnügen, weil ich dazu einmal mehr eine Melodie zur Begleitung mit einer offenen Gitarrenstimmung (D-Dur) fand. Mein Erlebnis, das ich mit Donald Sutherlands Idee kombiniert habe, hatte ich einen Tag nach meine 50. Geburtstag. Eine akute Blinddarmentzündung führt kurz vor knapp zur Operation. Es hätte schief gehen können – Grund genug, übers Ende nachzudenken.

 

Donald Sutherland ist 15 Jahre älter als ich und ein Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit mir haben muss, bin ich doch Anfang des Jahres 2000 in New York von ein Pärchen angesprochen worden, ob ich eben jener Donald Sutherland sei. Einige Monate später meinte auf Rhodos auch ein Grieche, dass ich Donald Sutherland ähnlich sähe. Inzwischen ist mir dies mehrmals passiert. Jedenfalls macht mich seit New York dieser Schauspieler auch aus diesem Grunde neugierig.

Inzwischen wurde die Erzählung, die dem "Sutherland-Zitat" zugrunde liegt (die literarische Vorlage schrieb der Autor Scott Fitzgerald aus den USA in den Zwanziger Jahren) unter dem gleichen Titel verfilmt, den auch schon die Fitzgerald-Novelle hatte. Der Film - mit Bad Pitt in der Hauptrolle - kam 2009 in die Kinos, und die filmische Umsetzung hält sich genauso wenig eng an die Vorlage wie mein Liedertext. Vor allem meinen Schluss finde ich am reizvollsten... Entstand im Frühherbst 2000 (Die Anregung von Donald Sutherland hatte übrigens zeitgleich auch der Liedermaching-Kollege Götz Widmann verarbeitet.)