Ich muss

(Diabetes-Symptom)

 

Ich sitz auf meinem Sitz,

seh aus dem Fenster so bequem,

denk an mein letztes Eis

und ob ich was zu trinken nehm.

Wir überholen einen Bus

und ein paar Leute winken.

Ich wink ihnen zurück

und dann will ich ein wenig trinken.

Da merk ich, dass es besser wäre,

wär der Vorrat knapp.

Ich fange an zu zappeln

und klemm mir beinah was ab.

 

Ich muss - weil irgend etwas in mir drängt.

Ich muss - irgend etwas ist beengt.

Ich muss - irgendwas muss aus mir raus.

Ich muss - und kann nicht warten bis Zuhaus.

Ich muss - hab keine Zeit, um lang zu warten.

Ich muss - sonst mach ich hier gleich in den Garten.

Ich muss - wo ist der vorgesehne Raum?

Ich muss - sonst reicht mir auch der nächste Baum.

 

Wir können wieder fahren,

bin erleichtert und befreit.

Das Ziel rückt immer näher,

ist es auch noch immer weit.

Die Sonne brennt aufs Dach,

es brennt genauso in der Kehle.

Ich brauch schnell was zu trinken,

weil ich mich so schrecklich quäle.

Da spür ich, es wär vorteilhafter,

wär die Flasche leer –

wenn der nächste Parkplatz

doch bloß schon was näher wär...

 

Ich muss - klemm eng zusammen Bein und Bein.

Ich muss - und wenn es sein muss, muss es sein.

Ich muss - denn meine Blase ist so voll.

Ich muss - ich möchte, will und kann und soll.

Ich muss - ich kann es fast nicht mehr ertragen.

Ich muss - ich will ja hier nicht in den Wagen...

Ich muss - ich muss jetzt haben, was ich brauch.

Ich muss - sonst reicht mir auch den nächste Strauch...

 

Copyright 2003 Gerd Schinkel

 

Eigentlich ein gespenstisches Lied, dem im Sommer 2002 Selbstbeobachtungen vorausgingen, die Erinnerungen an gelegentliche Autofahrten mit unseren Kindern wachriefen: Kaum hatten wir bei Autofahrten mit den Kindern anderthalb Jahrzehnte vorher die Stadt hinter uns gelassen und die Autobahn erreicht, ertönte von einem der Kindersitze aus gepresster Kehle der Ruf „Ich muss“, während gleichzeitig zappelnd die Beine zusammengedrückt wurden.

 

Und dann hatte ich im Frühjahr 2002 bei mir verstärkten Harndrang festgestellt, der kaum noch zu kontrollieren war. Hinzu kamen immenser Durst und rapider Gewichtsverlust, auf deren Bedeutung ich zunächst nichts geben wollte. Ohne es zu wissen, habe ich in diesem Lied Symptome einer Stoffwechselstörung beschrieben. Erst die fachärztliche Diagnose schaffte Klarheit: Diabetes mellitus. Ob Typ 1 oder 2 war allerdings unklar, weil ich Symptome für beide Typen aufwies. Seitdem muss ich Insulin spritzen, viermal am Tag und kann damit gut leben.

 

In Erinnerung an die Zeit, in der ich von Durst und vor allem Harndrang geplagt immer nach der nächsten Toilette gesucht habe. Damals kam dann eben auch die Erinnerung wieder an den Widerstand unserer kleinen Kinder, prophylaktisch aufs Klo zu gehen - um dann alsbald zappelnd die Beine zu kreuzen... Geschrieben 2003