Der ewige Despot

 

Mal ist er nur einsfünfzig,

mal ein Zwei-Meter-Mann, 

sein Haar, das ist mal schütter und mal voll.

Manchmal hat er eine Glatze,

ab und zu auch einen Bart,

und er weiß stets, was er möchte, darf und soll.

 

Er kann derb wie ein Prolet sein,

formvollendet wär er gern.

Charmant ist er nur, wenn er Kreide frisst.

Er lacht laut über Witze,

wenn er selber sie erzählt -

lautstark zeigt er gern, wozu er fähig ist.

 

Er leitet Konferenzen

und verhandelt taktisch klug -        

er trifft, so glaubt er, stets den rechten Ton.

Von dem, was um ihn rum passiert,

sieht er nur, was er will

doch egal, was du ihm sagst, er weiß es schon.

 

Er tippt gern seine Mails selbst

und kennt jedes Formular -

seine Kürzel schreibt er grün oder in rot.

Er krempelt seine Ärmel hoch,

sagt seinen Lieblingsspruch:

„Wir alle sitzen doch im selben Boot.“

 

Er geht über die Flure

im Bewusstsein seiner Macht,

und achtet drauf, dass jeder sie erkennt.

Wenns nötig sein muss,

zeigt er seine Sensibilität,

wenn er in Eisenstiefeln durch die Räume rennt.

 

Er ist ein Wichtigtuer,

der nur aufgeblasen glücklich ist,

ein unbeherrschter Westentaschenzar.

Vor Wut beißt er ins Handy,

tobt sich aus als Cheftyrann,

und glaubt selber hinterher, dass gar nichts war.

 

Er träumt, so wie sein Boss zu sein,

der über allem thront -

im Traum stehn alle Leute vor ihm stramm.

Sein Wort, das soll Gesetz sein,

sein Blick schon der Befehl,

seine Pläne und sein Wille das Programm.

 

Er schwingt sich wie ein Adler

hoch, in viel zu dünne Luft,

vergisst dabei das Eisen an den Schuhn.

Wie Ikarus blickt er zur Sonne,

fern von festem Grund,

und landet schließlich doch als Suppenhuhn.

 

Er ist der ewige Despot,

der keiner Macht gewachsen ist -

sie rinnt durch seine Finger aus der Hand.

Er mobbt hier, da, und dort

und merkt es nicht einmal -

und versteht sie nie,

die Zeichen an der Wand.

und versteht sie nie,

die Zeichen an der Wand.

 

Copyright 2001 Gerd Schinkel

 

Manche Lieder schreiben sich quasi von selbst, wenn sich der zündende Einfall, die ideestiftende Inspiration einstellen - und darauf hab ich nicht immer den entscheidenden Einfluss. In diesem Falle kam eins zum andern: inhaltliche Inspiration und formaler Einfall, nämlich ein Lied über einen "idealtypischen" Vorgesetzten zu schreiben, orientiert an dem Protestsong "The Universal Soldier" von Buffy Sainte-Marie, den Donovan Mitte der sechziger Jahre bekannt gemacht hatte. Den Text schrieb ich zunächst mit dieser Melodie im Kopf - hab aber am Ende doch eine eigene Vertonung vorgezogen.