MACH DIR NICHTS VOR

 

Wenn sie dich streicheln, begrabbeln, betätscheln -

mach dir nichts vor, Kind: Das ist nur auf Zeit.

Sie werden dich bald schon nicht mehr so verhätscheln.

Und bis es so wird, ist es gar nicht mehr weit.    

 

Wenn sie dich hänseln, verspotten, verhöhnen -

mach dir nichts vor, Kind: Das ist so gemeint!

Du darfst nicht erschrecken, musst dich dran gewöhnen,

auch wenn es dir manchmal unmöglich scheint.

 

Du bist wie im Laufstall von Gittern umgeben -

mach dir nichts vor, Kind, wenns mal anders scheint.

Überall stehst du zunächst mal daneben.

Du musst damit leben: Es ist so gemeint.

 

Du wirst stets allein sein - so wird es dir gehen.

Mach dir nichts vor, Kind, so ist es nun mal.

Du bist eben anders - du wirst es schon sehen.

Hab ein dickes Fell, Kind, du hast keine Wahl.

 

Zeig Selbstbewusstsein! Du kannst viel ertragen.

Erkämpf dir die Stärke, Kind - dann hast du Kraft.

Verlier keine Zeit, nach den Gründen zu fragen.

Dann kriegst du, was vor dir liegt, sicher geschafft.

 

Copyright 1982 Gerd Schinkel

 

Unsere Kinder, die inzwischen erwachsen sind, haben wir beide adoptiert. Sie wurden in Südkorea geboren und kamen als Säugling oder Kleinkind zu uns nach Deutschland. Die von uns beobachtete Begeisterung, mit der unsere Kinder - solange sie klein waren - von unseren Mitmenschen aufgenommen wurden, steht in krassem Gegensatz zu menschenverachtenden, fremdenfeindlichen Reaktionen, mit denen manche Zeitgenossen Asyl suchenden Flüchtlingen begegnen. Da man unseren Kindern - nun erwachsen - nicht auf den ersten Blick ansehen kann, warum sie hier sind und nicht in Asien, ist dieses Lied ein früher Versuch gewesen, sie auf mögliche Anfeindungen vorzubereiten...

Entstanden ist dieses Lied im gleichen Jahr, als wir unser erstes Kind, unsere Tochter Anneli, aus Südkorea adoptiert haben. Wir hatten uns als künftige Eltern nach bestem Wissen und Gewissen auf die Herausforderung vorbereitet und uns auch mit der Frage auseinandergesetzt, was wohl auf unser anders aussehendes Kind aus Asien später mal zukommen könnte, wenn die ersten Lebensjahre mit vielen ungebetenen Verhätschelungen durch wildfremde Menschen („Oh, wie süß…“) vorbei sein würden. Uns war klar, dass wir nicht davon ausgehen durften, dass sich die Sympathiebekundungen ein Leben lang hielten. Um unsere Tochter darauf vorzubereiten, mussten wir dafür Sorge tragen, dass sie ein „dickes Fell“ bekam. Dieses Lied entstand aus den damaligen Überlegungen und Bemühungen. Das Lied schrieb ich 1982 kurz nachdem unsere Tochter zu uns kam und unser Sohn noch gar nicht auf der Welt war...