Woher, wohin
Die Straße vor ihm liegt im Nebel.
Beim Losfahrn war noch schwarze Nacht.
Er kann sich nicht mehr dran erinnern,
zu lang die Zeit, die er durchwacht.
Er hält die Augen krampfhaft offen,
weiß nicht, ob ers noch lange schafft.
Die Hände krallen sich ums Steuer,
konzentriert mit aller Kraft.
Was vorher war, will er vergessen,
hat Angst, dass ihm das nicht gelingt,
will weder Fragen stelln noch hören,
weil jede Frage tiefer dringt.
Der Motor dröhnt in seinen Ohrn,
das Fenster hochdrehn geht nicht mehr.
Fahrtwind reißt ihn an den Haaren:
Wo willst du hin,wo kommst du her?
Woher, wohin –
draußen oder drin.
Weit weg, gradaus –
nach vorn, nach Haus...
Dann sieht er, wie es langsam dämmert,
und er erkennt die tiefe Schlucht.
Zu beiden Seiten schroffe Wände,
nur eine Richtung für die Flucht.
Es dringt kaum Licht bis in die Tiefe,
wos nicht nur dunkel ist, auch kalt.
Er haucht die Finger warm und zittert,
hofft, dass der Steinschlag ihm nicht galt.
Dann führt der Weg in eine Öffnung.
Er bremst nicht ab, er fährt hinein
und merkt, die Höhle hat kein Ende,
und hofft es wird ein Tunnel sein.
Und dann erkennt er einen Schimmer.
Nach einer Weile sieht er mehr.
Das Licht wird größer, er hört Stimmen:
Wo willst du hin, wo kommst du her?
Woher, wohin –
draußen oder drin.
Weit weg, gradaus –
nach vorn, nach Haus...
Wie greller Blitz trifft ihn die Sonne.
Geblendet wendet er den Blick.
Er sieht, der Berg hat sich geschlossen –
kein Tunnel und kein Weg zurück.
Er blinzelt furchtsam in die Ferne.
Es ist die Weite, die ihn schreckt.
Er macht sich hinterm Lenkrad kleiner,
hätt sich viel lieber ganz versteckt.
In Serpentinen geht es abwärts,
nicht in ein Tal – das Land ist flach.
Die Wolken jagen übern Himmel.
Er fühlt sich winzig, fühlt sich schwach.
Dann sieht er, wie der Weg sich gabelt.
Sich zu entscheiden, fällt ihm schwer.
Drum bleibt er stehn, weiß nicht weiter.
Wo will ich hin, wo komm ich her?
Woher, wohin –
draußen oder drin.
Weit weg, gradaus –
nach vorn, nach Haus...
Über ihm türmt sich ein Gewitter.
Die Donner krachen und es gießt.
Hell zucken Blitze in der Nähe.
Er zieht den Kopf ein und beschließt,
nicht einen Meter mehr zu fliehen,
wenn sich ein klares Zeichen zeigt.
Da sieht er fern den Regenbogen
und ihm fällt auf: Der Donner schweigt.
Dann steigt er aus und steht im Regen,
der macht ihn frisch, macht ihn klar.
Der Matsch dringt ihm durch seine Sohlen,
und er begreift, nun ist er da.
Er kann den Horizont erkennen und weiß,
dahinter liegt viel mehr.
Sein Herz schlägt laut: Er spürt sein Leben,
wenn er es will – was will er mehr.
Woher, wohin –
draußen oder drin.
Weit weg, gradaus –
nach vorn, nach Haus...
Copyright 2003 Gerd Schinkel
Wie soll man nach der eigenen Identität suchen, wenn die Ursprünge im Dunkel liegen? Was geht in einem Adoptierten vor, der mehr über seine Herkunft wissen möchte? Um unseren Sohn bei seiner schwierigen Suche nach der eigenen Identität zu begleiten; geschrieben 2003.