Weit und offen

 

Lass uns sehn, welche Träume wir noch haben,

und wie wir sie uns erfülln.

Wir wollen sie nicht einfach nur vergessen

oder wie Papier zerknülln.

Willkommen fern den Schluchten des Alltagstrotts!

Wir haben vor uns freie Sicht:

Sehn den Horizont, sehn uns in die Augen -

vertrauen auf den Glanz,

dass er noch hält, was er verspricht.

 

Weit und offen - ungebremst und frei.

Die Aussicht war nie besser:

Werden wir auch grau - wir werden wieder zwei.

Haben uns gut gehalten! Halten uns im Arm,

küssen unsere Falten und streicheln unsern Speck

und rubbeln gegenseitig kalte Füße weg.

 

Solln wir dorthin fahrn, wo wir noch nicht waren:

Nach Andalusien, Samarkand?

Unser Fernweh haben wir leicht ertragen.

Uns gefiel unser Leben, weil es uns verband.

Willkommen fern den Tälern des Einerleis!

Die Farben leuchten hell und bunt.

Wir sehn den Nebel steigen, sehn uns in die Augen -

vertrauen auf den Glanz,

tauchen ein bis auf den Grund.

 

Weit und offen - ungebremst und frei.

Die Zukunft liegt doch vor uns:

Werden wir auch älter - wir werden wieder zwei.

Haben uns gut gehalten! Halten uns im Arm,

küssen unsere Falten und kneten unsern Speck

und rubbeln gegenseitig kalte Füße weg.

 

Blicken wir zurück auf den Weg, den wir gegangen:

Über Höhen, durch die Tiefen, um die Kurven rum.

Hat uns nie Kälte oder Dunkelheit geschreckt,

habn uns nie verletzt, quälten uns nie stumm.

Die Kinder gehen längst nicht mehr an der Hand -

sie finden ihren Weg allein.

Wir sehn sie gehn und sehn uns in die Augen -

vertrauen auf den Glanz

und den Sonnenschein.

 

Weit und offen, ungebremst und frei.

Viele Pläne liegen vor uns:

Werden wir auch alt - wir werden wieder zwei.

Haben uns gut gehalten. Halten uns im Arm,

küssen unsere Falten und kosen unsern Speck

und rubbeln gegenseitig kalte Füße weg.

 

Copyright 2002 Gerd Schinkel

 

In einer kleinen Geschichte, die ich irgendwann mal aufgeschnappt habe, geht es um die Frage, wann das Leben beginnt. Um Rat gefragt werden ein katholischer Priester, ein buddhistischer Mönch und ein jüdischer Rabbi. Der katholische Priester verkündet, das Leben beginne mit der Befruchtung der Eizelle im Mutterleib. Der buddhistische Mönch meint, das Leben beginne mit der Geburt. Der weise Rabbi hingegen schüttelt den Kopf und meint schließlich: Das Leben? Wann beginnt das Leben: Na – wenn Kinder aus dem Haus und der Hund tot…“ Das Lied ist relativ rasch als „Motivationsgesang“ ans Ende meiner Konzerte gerutscht. Es soll die Perspektive für die neue Zeit zu zweit nach dem Auszug der erwachsenen Kinder weisen, den Blick auf wieder gewonnene Freiheiten öffnen, wenn im Sinne des weisen Rabbi das Leben beginnen kann. Wenn ich das Lied spiele, höre ich im Kopf dazu eine tierisch gute Brassband, die im besten New Orleans Jazz dem Song einen fetzigen Klangteppich unterschiebt, auf dem sich tanzend durch die Straßen ziehen ließe – wo auch immer. Geschrieben 2002