SECHZEHN NATIONEN 

 

Ein Schrei ertönt in Buenos Aires:

Im Stadion, da fällt ein Tor.

Eine Frau sitzt in der Wellblechvorstadt.

Der Schrei dringt nicht an ihr Ohr.

Vor Wochen, da war sie noch Mutter,

hatte auch noch einen Mann.

Sie hat alles, was sie liebt, verloren,

dass sie heut kaum noch weinen kann.

 

Und sechzehn Nation rennen hinter dem Ball.

Schweiß und Geschäft laufen gut.

Die Sonne brennt heiß in das Stadion –

doch auf dem Rasen klebt Blut.

 

Ihr Mann war in der Arena

als Ameise beim Bau der Pracht,

abkommandiert für wenig Lohn,

ausgeliefert an die Macht.

Auch der Sohn für ein Hungergeld

musste schuften für Weib und Kind,

damit noch zeitig für die Schau

die Kulissen auch fertig sind.

 

Und sechzehn Nation rennen hinter dem Ball.

Schweiß und Geschäft laufen gut.

Die Sonne brennt heiß in das Stadion –

doch auf dem Rasen klebt Blut.

 

Ein Murren auf dem Bauplatz:

Schwere Arbeit, dafür wenig Lohn.

Wie kriegt man Kinder satt

bei zweihundert Prozent Inflation?

Das war ein gefundenes Fressen

für die geheime Polizei:

Die Maschinengewehre schossen.

Sohn und Vater waren tot dabei.

 

Und sechzehn Nation rennen hinter dem Ball.

Schweiß und Geschäft laufen gut.

Die Sonne brennt heiß in das Stadion –

doch auf dem Rasen klebt Blut.

 

Von Deutschland fahren da gemeinsam

Spieler, Fan und Funktionär,

die Faschisten aufzuwerten.

Sie spielten, sagten sie, nur fair...

Sie kommen nicht nach Argentinien,

Klaus Zieschanks Schicksal aufzuklärn,

und vom Foltertod Elisabeth

Käsemanns wolln sie nichts hörn.

 

Und sechzehn Nation rennen hinter dem Ball.

Schweiß und Geschäft laufen gut.

Die Sonne brennt heiß in das Stadion –

doch auf dem Rasen klebt Blut.

 

Nix sehn, nix hörn und auch nix sagen,

wie Affen im Faschistenland.

Für Geld und zweifelhafte Ehren

rutscht in die Füße der Verstand.

Rennen Menschen um ihr Leben,

die Besucher rennen nach dem Ball.

Die Generäle grinsen nicht verlegen.

Nun feiert man sie überall.

 

Nicht nur von sechzehn Nationen weltweit anerkannt.

Das Geschäft hat sich gelohnt.

Was interessiert da noch jene Frau,

die weinend im Wellblechhaus wohnt...

 

Copyright 1978 Gerd Schinkel

 

Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978: Die Faschisten an der Macht verüben Massenmorde, doch der Ball rollt... Mehr als 25 Jahre später stellt die rot-grüne Bundesregierung an die argentinische Regierung den Antrag, den früheren Junta-Chef Videla an Deutschland auszuliefern, um ihm wegen des Schicksals der Bundesbürger Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank den Prozess zu machen. Als beide in den Putschwirren verschwanden, regierte in Deutschland auch ein sozialdemokratischer Kanzler. Wie intensiv hat die Bundesregierung eigentlich damals gegen Mord und Folter an Regimegegnern in Argentinien protestiert? Ach ja - vermutlich sollte man berücksichtigen, dass Argentinien damals wirtschaftlich gesehen noch ein lukrativerer Markt war als 25 Jahre später...

geschrieben 1978.