KARL DER STEIFE
Wir hatten Karl den Großen, Karl den Kahlen, Karl den Dicken,
Karl den Kühnen – und schließlich Karl den Steifen.
Er war nicht mehr der Jüngste, doch er dachte sich, das bringste:
Ruft das Vaterland, dann darfste da nicht kneifen.
Kerzengrade wie ein Stecken, wie die alten teutschen Recken,
stand er trutzig wie ein Felsen im Morast,
und griff nach dem höchsten Sitze, wählte selbst sich an die Spitze.
Treu und pflichtbewusst floh er vor keiner Last.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
die weiße Weste, du, die lässte besser aus.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
du kannst die Flecken nicht verstecken – zieh sie aus.
Er war wie aus preußisch Leder: Herrenreiter, keck mit Feder.
Doch sein Rock trug hässlich breite braune Streifen.
Er war schneidig und nicht bange, hielt dem Teutschen fest die Stange,
und das konnte ziemlich lange bei ihm reifen.
Schon bei Adolf mit dem Barte stand er fest zu der Standarte
als Parteivasall mit blauem Blick nach vorn.
Dann wars aus mit dem Schlamassel und dem großteutschen Gequassel.
Aber Karlimann, der hatte nicht verlorn.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
die weiße Weste, du, die lässte besser aus.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
du kannst die Flecken nicht verstecken – zieh sie aus.
Er gab sich ganz integer, harmlos, wie ein Bettvorleger.
Wie ein Schoßhündchen mit niedlich bunten Schleifen.
Der Jurist, Professor, Doktor, glatt geschniegelt, kein gelockter,
wusste seinen alten Lack gut abzuschleifen.
Dass er mal in der Partei war, als der Mensch hier einerlei war,
das war denen, die ihn wählten, ganz egal.
Er kam steil vom rechten Flügel. Gerne hielt er selbst die Zügel.
Na, ich bitte doch, das war ja wohl normal.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
die weiße Weste, du, die lässte besser aus.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
du kannst die Flecken nicht verstecken – zieh sie aus.
Wir hatten Karl den Großen, Karl den Kahlen, Karl den Dicken,
Karl den Kühnen, und schließlich Karl den Rechten –
nicht Aufrechten!
Doch wenn wir es bedenken und uns jede Lüge schenken,
wars so einer, wie ihn Durchschnittsdeutsche möchten.
Der hier Staatskarriere machte, es zu vielen Ämtern brachte,
vieles sah, auch wenn er tapfer widersprach.
Der von faulem Handel wusste, was er wohl vergessen musste.
Verurteilt zahlte er und zählte nicht mal nach.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
die weiße Weste, du, die lässte besser aus.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
du kannst die Flecken nicht verstecken – zieh sie aus.
Tja, die Machtgier birgt auch Tücken, Fälle für Gedächtnislücken,
doch die kratzen nicht am Lack der Selbstgerechten.
Er war einer von den Zähen, die zu allen Zeiten krähen,
und doch peinlich viel sehr gern verwischen möchten.
Dieser Staat bekam, kein Zweifel – wer bestritt es auch, zum Teufel –
einen Würdigen zur Galionsfigur.
Diesem Volk der Dichter, Denker, und auch vieler großer Henker,
ging er stramm voran auf alter teutscher Spur.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
die weiße Weste, du, die lässte besser aus.
Steifer Karl, steifer teutscher Karl,
du kannst die Flecken nicht verstecken – zieh sie aus.
Copyright 1978 Gerd Schinkel
Der konservative Politiker Karl Carstens war von seiner CDU/CSU-Fraktion in verschiedene Spitzenfunktionen gewählt worden. Auf der linken Seite des politischen Spektrums hatte er sich durch sein schneidiges Auftreten unbeliebt gemacht. Dann wurde auch noch seine mangelnde Distanz zum NS-Regime ruchbar. Gleichwohl ließ er sich, nachdem die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung klar waren und es an seiner Wahl keinen Zweifel gab, zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten küren. Für seinen Amtsvorgänger, die Frohnatur Walter Scheel, gab es nur eine Amtsperiode. Und dann kam dieser Nachfolger mit „brauner“ Vergangenheit“, der all die zu bestätigen schien, die ohnehin bezweifelten, dass es je den Versuch eines Neuanfangs gegeben hätte, ins höchste Amt mit allen Würden.
geschrieben 1978, mehr als 30 Jahre später ein sprachlicher Aktualisierungsversuch