FREUND AUS POTSDAM

 

Grüß dich, Freund aus Potsdam,

ich kenn dich nicht, doch schreib ich dir

hier im Namen einer Frau,

die sich nicht mehr traut.    

 

Sie schrieb dir wirklich gerne –

und doch verlor sie nun den Mut,

weil sie erfuhr, dass nicht nur du

allein die Briefe liest.

 

Das war ja sowieso nie so,

denn hinterm großen Zaun

gabs immer Schnüffler,

doch das war nicht schlimm.

Wenn die von unserm Ärger lasen,

den Sorgen, was so lief,

dann konnt das für sie auch kein Schaden sein,

oder?

 

Doch dann kams raus per Zufall.

Der „STERN“ entdeckte den Skandal,

dass unser BND

so gut wie eure Stasi ist.

 

Die registriern hier alles,

was mit der Post gen Osten geht,

und sind dabei so dreist

zu sagen, das sei ganz legal...

 

Die schern sich einen Dreck

ums Briefgeheimnis, Grundgesetz.

Die sind so geil aufs

Spitzeln, Denunziern.

Und wenn einer, vielleicht später,

einmal Arbeit sucht,

dann ziehn sie diesen Ostkontakt

hervor, und er ist raus.

weg vom Fenster...

 

Und darum, Freund aus Potsdam,

schreib ich dir stellvertretend hier,

damit die Drähte durch den Zaun

auch weiter quer sich ziehn.

 

Tja, früher wars noch anders.

Da hieß es: „Halt Kontakt mit drüben...“

Doch heute wird bespitzelt,

der ihn weiter sucht und hält.

 

Die einen machen schlapp,

kneifen den Schwanz ein, resigniern -

und damit hat der

Zweck sich voll erfüllt.

Wirds auch so schnell nicht anders,

nicht bei euch und nicht bei uns.

Was solls: Noch tauschen wir

Gedanken aus –

trotzdem...

 

Copyright 1979 Gerd Schinkel

 

Im „STERN“ stand die damals überraschende Story, dass westdeutsche Geheimdienste Postsendungen mit Adressaten im deutschen Osten systematisch öffneten und mitlasen, um so Spionen auf die Spur zu kommen oder andere, sicherheitsrelevante Informationen zu sammeln. Dass dies von der ostdeutschen Stasi genauso gemacht wurde, war allgemein bekannt oder vermutet, jedenfalls nicht bezweifelt. Ich studierte damals Jura in Bonn und bekam mit, wie eine sozialdemokratische Kommilitonin gegen diese westdeutsche Bespitzelung und verfassungswidrige Praxis der Verletzung des Briefgeheimnisses Verfassungsbeschwerde einreichte. Jahre später wurde dieser Beschwerde tatsächlich stattgegeben...

geschrieben 1979