Der Kalender

 

In meiner Zeitung lag heut ein Kalender:

Die Tagesübersicht fürs ganze Jahr.

Nur kurze Zeilen - nichts für Platzverschwender.

Wieder mal ein Jahr vergangen war.

Das nächste nicht mehr weit - nur ein paar Tage.

Kein Tag wie der andere kommt und geht

Bei der Omi war das keine Frage:

Was wichtig ist, auch im Kalender steht.

 

Gut sichtbar hing er ewig in der Küche:

Auf Augenhöhe, gleich neben der Tür.

So unverzichtbar dort wie die Gerüche.

Und wer da drauf stand, war ein Teil von ihr.

Ein Heiliger pro Tag und andere Namen,

mit Jahreszahl - und nie genügend Platz

für all die Lieben, die in Frage kamen,

die ihr geblieben im Erinnerungsschatz.

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen.

Sie lebt ihr Leben Tag für Tag beschwingt.

Verdrängt, was ihr die Laune trübt,

indem sie sich in Langmut übt.

Warum sich grämen, weil es doch nichts bringt...?

 

Drei Löffel Kaffee in die Filtertüte.

Dann kochend heißes Wasser hinterher.

Der Rückblick voller Sehnsucht, Wehmut, Güte.

Mancher, der früh fort ging, fehlt ihr sehr.

Jeder Tag bringt Grund, sich was zu gönnen:

Geburtstag, Hochzeit, Taufe, Kommunion...

Feste, die muss man auch feiern können.

Gelebtes Leben - Schmerz verliert sich schon.

 

So früh hat sie ihrn Hermann einst gefunden,

der aus dem ersten Krieg verwundet kam.

Sie hat voll Liebe sich mit ihm verbunden.

Und er sie mit ins ferne Dortmund nahm.

Zwei Kinder zuerst - dann die Nazis kamen.

Schon wieder Krieg - und Hermann schwer verletzt.

Er starb im Lazarett in ihren Armen -

und alle ihre Träume warn zerfetzt.

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen.

Sie lebt ihr Leben Tag für Tag beschwingt.

Verdrängt, was ihr die Laune trübt,

indem sie sich in Langmut übt.

Warum sich grämen, weil es doch nichts bringt...?

 

Sie ging zurück, woher sie einst gekommen.

Zog mit den Kindern bei den Eltern ein.

Hermanns Urne hat sie mitgenommen,

und war nicht nur an seinem Grab allein.

Wollt nie an einen anderen Mann sich binden,

und trug ihr Witwen-Schicksal Jahr für Jahr. 

Kinder ziehn ins Leben und verschwinden -

sie blieb: Wenn man sie brauchte, war sie da.

 

Sechsundneunzig wär heut Tante Grete.

Und als ihr Karl fiel, warn sie noch verlobt.

Nie ein anderer ihr den Kopf verdrehte.

Der Krieg hat in ihrm Kopf noch lang getobt.

Heinz war, als er starb, erst sechsunddreißig:

Am Hochofen gestürzt und dann verbrannt.

Ein feiner Kerl, so fröhlich, immer fleißig -

und hat sich gut mit Tauben ausgekannt.

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen.

Sie lebt ihr Leben Tag für Tag beschwingt.

Verdrängt, was ihr die Laune trübt,

indem sie sich in Langmut übt.

Warum sich grämen, weil es doch nichts bringt...?

 

Manfred fuhr zur See und kam nicht wieder.

Luise starb an ihrem achten Kind.

Schwester Helga, die kam elf mal nieder. -

Wie gut, dass heut doch andere Zeiten sind...

Vetter Fritz war ohne Glück bei Frauen:

Dreimal geschieden – jede lief ihm weg.

Onkel Heinrich, auf den konntst du bauen.

Der half dir auch aus allertiefstem Dreck.

 

Manchmal denkt sie an jene, die sie plagten:

Sie hat sie alle längst schon überlebt,

die sie verrieten, ihr Gemeines sagten.

Sie grinst: „Wer andern eine Grube gräbt...“

Trinkt auf ihr Wohl noch ein paar heiße Schlucke.

Und gießt den Filter noch einmal halb voll:

Auf manchen Schietkerl, manche dumme Tucke -

und immer noch sitzt da ein bisschen Groll...

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen.

Sie lebt ihr Leben Tag für Tag beschwingt.

Verdrängt, was ihr die Laune trübt,

indem sie sich in Langmut übt.

Warum sich grämen, weil es doch nichts bringt...?

 

Besuch bekommt auch gern mal was vom Teller:

Kartoffeln, Frikadellen, Blumenkohl.

Ist son Besuch auch manchmal nur ein schneller -

man fühlt sich so in ihrer Küche wohl.

Den Teller randvoll übern Tisch gehoben,

energisch vor den lieben Gast gestellt,

und noch ein wenig näher hingeschoben:

Hier wird gegessen - auch was nicht bestellt.

 

„Nimm hin“, sagt sie, und meint nicht nur die Speise,

und alles, was sonst auf dem Tisch noch steht.

Auch ihren Widerstand auf ihre Weise,

mit dem sie Ärger aus dem Wege geht:

Nimm hin und hak es ab und lass es laufen,

denn irgendwie renkt sich schon alles ein.

Und wenn dus brauchst, kannst du dir Kuchen kaufen -

und schenk dir eine Tasse Kaffee ein...

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen.

Sie lebt ihr Leben Tag für Tag beschwingt.

Verdrängt, was ihr die Laune trübt,

indem sie sich in Langmut übt.

Warum sich grämen, weil es doch nichts bringt...?

 

Die Jahre, die Jahrzehnte sind verflogen.

Manch Umzug, manchen Neuanfang gewagt.

Ausgebombt, den Rücken krumm gebogen.

Gemacht, getan - nicht lang „Warum“ gefragt...

Gelandet dann zufrieden in der Küche.

Tagein, tagaus gepütschert und gekramt.

Beim Kalender ein paar weise Sprüche:

Selbst abgeschrieben, und nicht erst gerahmt...

 

Ein halbes Leben lang schlohweiße Haare.

Doch Kinder machen jeden Kummer wett.

Die Tochter überlebt um dreizehn Jahre.

Der Oberschenkelhalsbruch zwang ins Bett.

Das Lebensmotto niemals aufgegeben:

„Ein Tag, der ohne Lachen, ist verlorn.“

„Winkt nahes Glück - warum nach fernem streben.“

Und: „Jeden Tag gelebt wie neu geborn...“

 

Ja, die Omi weiß die Zeit zu nehmen:

Das Schlimmste, sagt sie, liegt ja hinter ihr.

Und kommst du zu ihr auf Besuch,

fragt sie: „Hast du ein Taschentuch?“

und sagt: „Grüß deine Großmutter...“ zu dir...

 

Copyright 2008 Gerd Schinkel

 

Das Lied beschreibt unter Ausnutzung künstlerischer Freiheit das Leben und das Lebensrezept meiner Großmutter Alma Wannke.