Dutzendgesicht

 

Das Dutzendgesicht

aus West-Virginia

vergisst man so schnell.

Die Kippe im Mundwinkel,

Knarre im Arm:

Fotomodell.

 

Weiß sie, was sie tut?

Was sie macht mit der Macht,

so allzeit bereit?

Sie grüßt ihre Mutter

vom falschen Ort zur falschen Zeit

Zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris.

 

An der Kaufhauswand

hängt ihr Foto nicht mehr.

So was geht schnell.

Vertuschen, verdunkeln,

verschweigen, verharmlosen:

Foltermodell.

 

Sie tat, was sie sollte

und lacht und sagt dazu

nicht ein Widerwort.

Und grüßt ihre Mutter

zur falschen Zeit vom falschen Ort

zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris.

 

Entsetzen und Schweigen,

Betroffenheit heucheln,

so deutlich wies geht.

Fragen nach Zeugen

und Leichen ausweichen,

so lange es geht.

 

Sie tun was sie wolln

und wenns sein muss, tuts

ein klein bisschen leid.

Dieser Gruß an die Mutter

vom falschen Ort zur falschen Zeit

zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris.

 

Genehmigt, befohlen,

gelenkt und geleugnet:

So unangenehm.

Erniedrigen, quälen,

die Selbstachtung nehmen,

und das mit System.

 

Sie wissen zu lachen.

Und was sie sonst machen?

Kein einziges Wort.

Nur der Gruß an die Mutter

zur falschen Zeit vom falschen Ort

zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris.

 

Das Dutzendgesicht vor Gericht:

Keine Chance.

Geplatzt ist der Traum.

Der Alptraum geht weiter:

Die Zukunft vergeigt,

Perspektive? Wohl kaum.

 

Dies wussten, die wissen,

auf Ehr und Gewissen,

gewiss nicht Bescheid...

Was geschah vorm Gruß an die Mutter,

vom falschen Ort zur falschen Zeit

zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris.

 

Geschwängert vom

Folterkumpanen, ein Brandmal,

lebendig und schwer.

Ein Mitbringsel aus

Fleisch und Blut, das

wächst und gedeiht immer mehr.

 

Irgendwann wird es fragen:

„Als ihr mich gezeugt habt,

wie ist es geschehn?“

Und dann will es vielleicht auch

zur falschen Zeit diesen falschen Ort sehn,

zwischen Euphrat und Tigris,

zwischen Euphrat und Tigris...

 

Copyright 2004 Gerd Schinkel

 

Das Lied beschreibt die unfassbaren Vorkommnisse, die sich mit dem Namen der amerikanischen Soldatin Lynndie England verbinden, die offenbar „zur falschen Zeit am falschen Ort“ war, wie sie selbst mehrere Monate vor Aufdeckungen der Folterpraktiken im amerikanischen Gefängnis Abu-Ghuraib in Bagdad ihrer Mutter am Telefon sagte.