Bis sie geht

 

Nach draußen schimmert Licht.

Sie liest und schläft noch nicht

und taucht in die Seiten.

Im Kopf noch so mobil,

denkt sie sich an ihr Ziel

und schweift durch die Zeiten.

 

So viel erlebt, so viel gesehn,

von so viel geträumt

und so viel versäumt.

So viel erreicht, so viel geschafft.

Nun fällts nicht mehr leicht,

nun schwindet die Kraft

bis sie geht.

 

Vor ihr der rote Wein,

der lässt sie nicht allein

und hilft ihr durchs Leben.

Und Zigarettenrauch,

den, sagt sie, braucht sie auch

zum Löffelabgeben.

 

So viel gemacht, so viel gewagt,

und so viel versucht,

und manchmal geflucht.

So viel erreicht, so viel geschafft.

Nun fällts nicht mehr leicht,

nun schwindet die Kraft

bis sie geht.

 

Wer sich zu ihr gesellt,

den Stuhl nah zu ihr stellt,

dem kann sie berichten.

Wen hat sie nicht gekannt,

wem gab sie nicht die Hand –

so viele Geschichten.

 

So viel geliebt, so viel gelebt,

nach so viel gereckt,

so viel weggesteckt.

So viel erreicht, so viel geschafft.

Nun fällts nicht mehr leicht,

nun schwindet die Kraft

bis sie geht.

 

Sie lebt von Tag zu Tag

so, wie sie leben mag

und will sich nicht quälen.

Fragt nicht, was kommt, was wird.

Wer weiß es, wer irrt,

wer kann frei wählen?

 

So viel gehört, so viel gesagt,

so vieles beschworn,

so vieles verlorn.

So viel erreicht, so viel geschafft.

Nun fällts nicht mehr leicht,

nun schwindet die Kraft

bis sie geht.

 

Copyright 2004 Gerd Schinkel

 

Sie hatte alle ihre Verwandten überlebt, unsere betagte und belesene Nachbarin Traute Schmidt-Hertzig. Aber es fanden sich Freunde und Nachbarn, die sich um sie kümmern, damit sie ihr Leben solange selbständig gestalten konnte, wie es eben ging. Und mit ihrer Erfahrung und ihren Geschichten hat sie so manche Besucher bereichert.