DER LEERE BLICK

 

 

 

Sie sind verzweifelt, voller Unruhe, weit weg –

 

und die Behörden interessiert ihr Leid nein‘ Dreck –

 

man hat verboten, dass sie nach den Liebsten sehn,

 

wegen Corona, doch sie könn‘n es nicht verstehn.

 

Dass man sie draussen ein- und aussperrt, geht zu weit –

 

es quälen Angst und Sehnsucht – es verrint die Zeit.

 

 

 

Er sitzt seit Wochen auf dem Sessel und schaut raus,

 

allein zwar nicht, aber sein Heim ist kein Zuhaus.

 

Er wird versorgt, gesäubert und kriegt Speis und Trank,

 

hört ab und zu auch ein paar Worte, Gott sei Dank.

 

seit Corona kam nicht einer zu Besuch -

 

er sitzt am Fenster, in der Hand ein Taschentuch.

 

 

 

Sie liegt im Bett - dass sie mal aufstand, ist was her.

 

Es ist sehr mühevoll, die Beine wolln nicht mehr.

 

Sie grübelt, wenn sie einfach daliegt, vor sich hin,

 

sucht irgendwo nach dem verlornen Lebenssinn.

 

Und eh sie ihn entdecken konnte, schläft sie ein

 

und ist dann wenigstens im Traum nicht mehr allein

 

 

 

Sein Leben nimmt er nicht mehr wahr als schwer, als leicht.

 

Hätt er ein Ziel, er wüsste nicht, ob er’s erreicht.

 

Ob er was registriert, sieht man an seinem Blick.

 

Allein zu essen, dazu fehlt ihm das Geschick.

 

Vermutlich kann man noch erkennen, wenn‘s ihm schmeckt:

 

Wenn seine Zunge über seine Lippen leckt.

 

 

 

Wo sind die Enkel, ihre Tochter und ihr Sohn?

 

Lang her das letzte Mal, wohl ein paar Wochen schon,

 

Telefoniern kann sie inzwischen auch nicht mehr,

 

der letzte Anruf ist ne Ewigkeit schon her.

 

und aus dem Zimmer raus kann sie längst nicht mehr gehn -

 

und was die Pflegerinnen sagen, kaum verstehn.

 

 

 

Seit ein paar Wochen er so nah am Fenster sitzt.

 

Ob er noch spürt, wenn er mal friert oder mal schwitzt?

 

Schon lange, dass er keinen Menschen mehr erkennt,

 

versteht es nicht, wenn einer sagt, er sei dement.

 

Wenn einer kommt, um ihn zu füttern, merkt er’s schon –

 

tagein, tagaus geht es so weiter, monoton.

 

 

 

Sie ist ja hier nicht ganz allein, das weiss sie noch.

 

Man kümmert sich um sie, nur: Einsam ist sie doch.

 

Denn all die Lieben ihres Lebens fehln ihr sehr -

 

sie dürfen seit Corona nicht mehr zu ihr her.

 

Sie starrt mit Tränen in den Augen auf die Wand,

 

vermisst ein liebevolles Streicheln auf der Hand.

 

 

 

Er sitzt am Fenster, aber schaut nicht mehr hinaus.

 

Sein Blick ist leer, ins Nirgendwo, starr geradeaus.

 

Er ist schon kühler, doch nun kann er nicht mehr friern,

 

ist unterwegs und hat schon nichts mehr zu verliern.

 

Ein Abschied ohne Händedruck und liebes Wort.

 

Auch wenn er noch im Sessel sitzt - jetzt ist er fort.

 

 

 

Copyright 2020 Gerd Schinkel