RÜCKSCHAU

 

 

 

Als sie drei war, begann der Faschismus.

 

Manche warnten und sahen was kam.

 

Andere wollten nichts sehn und nichts wissen,

 

welches Unheil den Anfang hier nahm.

 

Krieg begann dann als sie neun geworden,

 

und ihr Vater ging in Uniform.

 

Sie hing an ihm wie sonst an keinem.

 

Weil Papa fehlte, litt sie ganz enorm.

 

 

 

Sie wurd fünfzehn – der Krieg war vorüber.

 

Sie hatte ihrn Papa verlorn,

 

Bomben fielen nicht mehr vom Himmel –

 

ein junger Mann hatte sie auserkorn.

 

Sie kam nieder, gerad zwanzig geworden.

 

Ein Sohn, an dem sie sehr hing.

 

Mit Mitte zwanzig verließ sie seinen Vater,

 

verzichtete auf ihren Ring.

 

 

 

Mit achtundzwanzig ist sie weggezogen –

 

ne neue Chance - geh nochmal über Start.

 

Auf der Suche nach besserer Zukunft –

 

war nicht einfach, nicht leicht - nicht nur hart.

 

Mit einunddreißig hat sie einen gefunden,

 

der war erfahrn, tat ihr gut, gab ihr Halt.

 

fast so alt wie ihr Vater nun wäre –

 

so machte sie sich für ihn extra alt.

 

 

 

Mit Mitte dreißig wollt sie mit ihm ein Haus bauen,

 

ohne Trauschein, verbunden und frei

 

Hat gespart jede Mark, jeden Pfennig –

 

mit Ende dreißig war diese Liebe vorbei.

 

Ab Anfang vierzig ist sie in Kur gefahren,

 

den Akku aufzuladen bereit,

 

sich das Glück aus den Schatten zu greifen,

 

ihre Sehnsucht war groß, das Herz weit.

 

 

 

Mitte vierzig: Diagnose entsetzlich –

 

ausgeliefert dem Krebs wie er kam.

 

Angst verdrängt, ignoriert und geschultert –

 

sie aus dem Leben das Schöne sich nahm.

 

Mit beinah fünfzig sich gegönnt, was erschwinglich:

 

Sonne, Sand, rückten Fernen ihr nah.

 

bis in ihr sich der Krebs so vermehrte,

 

jeder Widerstand sinnlos war.

 

 

 

Gefügt ins Schicksal dann mit Mitte fünfzig –

 

das Leben ließ ihr kaum je eine Wahl,

 

nicht bereit, Leiden endlos zu tragen,

 

bat sie um Erlösung final.

 

Sie war eine Frau wie so viele –

 

zu kurz gelebt und früh schwer krank.

 

Ich trag sie noch in meinem Herzen,

 

weil ich ihr mein Leben verdank.

 

 

 

© 2024 Gerd Schinkel