Sie in ihr
So wie sie wollt sie nie werden,
hatte sie sich oft geschworn.
Nicht die Schwächen, die Beschwerden –
versucht, versagt, verlorn...
Sie schaut sich in die eignen Augen.
Sieht, wie sie ihr entgegenblickt:
Das gleiche Kinn, die gleiche Nase
erkennt sie - und erschrickt.
Nie war sie die beste Freundin.
Für jeden immer, doch nie für sie da.
Im Streit oft aneinander hochgestiegen -
bis es kaum noch zu ertragen,
kaum zu reparieren war...
So wie sie wollt sie nie leben.
Auf jede Weise - nur nicht so.
Bloß kein Heucheln, Gott ergeben...
Sie lief, sie rannte – floh...
Heute merkt sie immer wieder,
wie viel von ihr in ihr steckt:
Gleiche Gesten, gleiches Wesen –
sie reagiert erschreckt.
Immer nah, so nah im Nacken.
Fest ihr Griff. Ihr Standpunkt klar.
Mit Macht gespielt – Ohnmacht vorgespiegelt,
bis es kaum noch zu ertragen,
kaum noch mit zu leben war.
So wie sie wollt sie nicht bleiben.
Anders werden, anders sein.
Ähnlichkeiten untertreiben –
sich so von ihr befrein.
Sie steckt in ihr tief in den Poren.
Keiner kann aus seiner Haut.
Kein Leben lässt sich wiederholen,
kein Schicksal wird durchschaut.
Copyright 2005 Gerd Schinkel
Erinnerungen und Wahrnehmungen rund um das oft nicht einfache Verhältnis zwischen Mutter und längst erwachsener Tochter.