GEH, FLÜCHTLING, GEH    

 

 

 

Äcker verdorrn und die Quelln

 

sind längst trocken,     

 

nichts mehr zu ernten,

 

nur Krieg, Gewalt, Not,

 

Hoffnungen, Träume

 

und Sehnsüchte locken,     

 

Furcht treibt zur Flucht,

 

aber Angst bleibt vorm Tod,

 

 

 

Die Wege sind staubig,

 

beschwerlich, gefährlich.

 

Wer Geld nicht versteckt,

 

wird bestohlen, beraubt.     

 

Unterwegs lernt man,

 

Misstrauen ist unentbehrlich,

 

Und nur allzu gern

 

wird den Schleppern geglaubt.

 

 

 

Ade, Mutter, Vater,

 

will euch nicht verlieren,

 

ich grüss’ euch von dort,

 

wo die Schlepper kassieren,

 

vergesst mich nicht, wenn ich

 

nun fort von euch zieh…

 

hör überall doch nur,

 

flieh, wart nicht, flieh…

 

 

 

Lebt wohl, Schwestern, Brüder,

 

will euch nicht verlieren,

 

ich bleib nicht lang, wo mich

 

Verbrecher traktieren, 

 

vergesst mich nicht, wenn ich

 

nun fort von euch zieh…

 

hör überall doch nur,

 

flieh, wart nicht, flieh…

 

 

 

Gefangen, geschlagen,

 

verkauft und geschunden,

 

verschleppt und verstümmelt,

 

Verwandte erpresst,

 

die Hoffnung bewahrt,

 

einen Fluchtweg gefunden,

 

auf dem man Vergang’nes

 

weit hinter sich lässt.

 

 

 

Schrottboote randvoll

 

mit Elend beladen,

 

Todesangst, Panik,

 

Verzweiflung an Bord

 

Hoffnung auf Frieden

 

an fremden Gestaden -

 

hungrig und durstig

 

spricht niemand ein Wort

 

 

 

Ade, Onkel, Tanten,

 

will euch nicht verlieren,

 

Muss weiter, und mag mir

 

auch manches passieren,

 

Cousine, Cousin,

 

ob ich euch wiederseh…

 

und überall hör ich nur,

 

geh, Fremder, geh…

 

 

 

Lebt wohl, Freunde,

 

denkt an mich weit in der Ferne,

 

ich konnte nicht bleiben,

 

wäre bei euch noch gerne,

 

wer weiß, ob ich euch

 

irgendwann wiederseh…

 

und überall hör ich nur,

 

geh, Fremdling, geh…

 

 

 

Küsten bewacht

 

und die Grenzen geschlossen,

 

wer sich nicht abweisen

 

lässt, wird verjagt,

 

deportiert und vertrieben,

 

vielleicht auch beschossen -

 

Warum man sein Leben wagt,

 

wird nicht gefragt.

 

 

 

Verdächtigt als Mörder,

 

Vergewaltiger, Diebe,

 

Terroristen und Dealer,

 

die man totschlagen soll.

 

Ich hab eine Sehnsucht

 

nach Frieden und Liebe,

 

von Heimweh und Einsamkeit

 

ist mein Herz voll.

 

 

 

Ade, meine Liebsten,

 

so weit in der Ferne,

 

ich konnt ja nicht bleiben,

 

wär bei euch noch gerne,

 

vergesst mich nicht, hoff,

 

dass ich euch wiederseh…

 

solang ich von manchen hör,

 

geh, Flüchtling, geh…

 

 

 

Ich grüß euch, ihr Liebsten,

 

 so weit in der Ferne,

 

Ich wollt, ich könnt schreiben,

 

„hier hilft man mir gerne“,

 

doch was ich erlebe

 

und besser nicht schreib,

 

ist, zu viele wolln, dass ich

 

geh und nicht bleib.

 

 

 

Ist der Krieg denn vorüber?

 

Wie könnt ihr jetzt wohnen?

 

Habt ihr zu essen,

 

dass ihr leben könnt?

 

Wer schützt vor Willkür?

 

Wird man euch verschonen?

 

Ob man euch ein Leben

 

in Sicherheit gönnt…

 

 

 

Fallen noch Bomben,

 

explodieren Granaten?

 

Fliegen Raketen?

 

Wo seid ihr geschützt?

 

Hier droht mir Abschiebung,

 

ich wurd verraten,

 

und all euer Beten

 

hat doch nichts genützt.

 

 

 

Ich grüß euch, ihr Liebsten,

 

so weit in der Ferne,

 

Ich sehe, am Nachthimmel

 

leuchten die Sterne,

 

es leuchten hier and’re,

 

als die, die ihr seht –

 

Bin in Abschiebehaft –

 

fragt mich nicht, wie’s mir geht.

 

 

 

Vielleicht, meine Liebsten,

 

so weit in der Ferne,

 

sehn wir uns bald wieder,

 

wär‘ bei euch so gerne,

 

vergesst mich nicht, wenn

 

wir uns nie wiedersehn…

 

sie schieben mich ab,

 

sagen „Los – du musst gehn.“

 

 

 

deutscher Text Copyright Gerd Schinkel