Gerd Schinkel und die eigene "liederliche Existenz"

Reinhard Mey als Hypothek

"Weisst du, an wen du mich erinnerst?"

Warum gerade ich? Wieso gerade (d)er?

 

 

Vorbemerkung:

Als ich 2004 den folgenden Aufsatz zu schreiben anfing, hat es in mir gekocht. Denn ich sah mich frisch in eine Schublade einsortiert, in der ich partout nicht sein wollte. Aber so ist es ja häufig, dass eine Fremdwahrnehmung von einem selbst, als die Art und Weise, wie man von anderen Menschen gesehen, erlebt, charakterisiert wird, und die eigene Selbstwahrnehmung mit dem "geschönten" Bild, das man von sich selbst in jeder Hinsicht idealisiert vor Augen und im Sinn hat, nicht übereinstimmen. Wird man mit der Nase darauf gestoßen, kann dies im günstigsten Falle der Gelassenheit zu Schulterzucken führen, und wenn die Gelassenheit geringer ist vielleicht zu Irritationen. Manchmal aber ist auch Verärgerung oder Enttäuschung die Folge, vor allem, wenn die "Einsortierung" völlig an der eigenen Zuordnung vorbeigeht. In einer solchen Situation, vor allem wenn die "Konfrontation" noch frisch in Erinnerung ist, fällt es dann auch schwer, sich damit abzufinden oder es einfach so hinzunehmen, vielleicht mal sacken zu lassen und es für sich ins Positive zu wenden...

 

Mit etwas Abstand lese ist selbst nun eher amüsiert, was mich 2004 "auf die Palme gebracht" hat, aber immerhin hatte sich mir ein Anlass geboten, in dieser Situation mal so eine Art "Selbstverortung" zu versuchen, als Momentaufnahme und Reflektion über Gewesenes und Prägendes, aber auch zur Orientierung, um aus dem zurückgelegten Weg heraus den Blick nach vorn zu richten... Wer weiß schon, wo es hingeht, wenn man bestenfalls bis zur nächsten Kurve erkennen kann, wo es lang geht...

 

Fünf Jahre später habe ich in der Aufsatz-Überschrift (und in der Schlusszeile) einen Buchstaben eingeklammert, vielleicht zur Relativierung einer Distanz zu einem Kollegen, die für mich längst nicht mehr entscheidend ist. Respekt zu zeugen, fällt mir heute offenbar leichter - vielleicht ein Ausgleich dafür, dass einem im Alter manches andere eben schwerer fällt...

 

Gerd Schinkel im September 2009

 

 

Reinhard Mey als Hypothek:

„Weißt du, an wen du mich erinnerst... ?“

 

Warum gerade ich? Wieso gerade (d)er?

 

Zur allergischen Reaktion auf einen schmerzhaften Vergleich, der daneben liegt

Da! Es ist wieder passiert. Der Kloß sitzt im Hals und wird nicht kleiner. Ich spüre, wie sich die Nackenhaare aufstellen, der Kamm schwillt, die Zähne lang und länger werden, zubeißen wollen, zurückbeißen: „Fass, Gerd, fass! Gleich an die Kehle...“ Beiß zu - die Eckzähne sind lang genug.

 

Relativ selbstbewusst, aber doch angespannt nervös hatte ich einem geschätzten Kollegen bei tauglichem Anlass meine Box mit meinen besten Liedern, gesammelt auf vier CDs, geschenkt. Nun lauerte ich elektrisiert auf seine Reaktion. Immerhin wusste ich, dass er sich für die Liedermacherei interessierte - gewiss, nicht für die aktuelle Szene, aber er mochte die Generation der Altvorderen, die sich auf der Burg Waldeck im Hunsrück zum kollegialen Sängerwettstreit trafen, in grauen Vorzeiten, als die Radioprogramme noch anders waren - und Liedermacher auch schon keine Chance hatten... . Sein Interesse an „meiner Kunst“ zu wecken, ihn von meinem Können zu überzeugen, Respekt abzutrotzen, war ein hochgestecktes Ziel. Zu hoch gesteckt? Zu hoch gereckt?  

Wer sich mit leuchtenden Augen daran erinnert, dass es ihm einst gelang, nicht nur mit „Väterchen“ Franz-Josef Degenhardt gemeinsam fotografiert zu werden, sondern sogar noch sein Autogramm aufs Foto zu bekommen, wird seine Autorität in Fragen der Liedermacher-Qualität kaum anzweifeln lassen. Meine Unverfrorenheit bescherte mir ein ähnliches Erlebnis wie es Eiskunstläufer immer wieder durchzustehen haben, wenn sie im Anschluss an die überstandene Kür nach Luft jappend auf das Urteil der Jury warten: A-Note zur technischen Ausführung, B-Note zur künstlerischen Ausdruckskraft. Ungerecht sind die Bewertungen immer, aber Eis ist schließlich auch glatt. Und Liederschreiben ist kein Sport. Es gibt keine Pflichtfiguren mit definierten Schwierigkeitsgraden.

 

Die Antwort auf meine kecke Frage trifft mich wie ein Hammer, der das Fundament erschüttert: „Weißt du, an wen du mich erinnerst? ...“ - Nein - nicht schon wieder! Gnade! Doch keine Chance, kein Entrinnen, das Schicksal schlägt zu, erbarmungslos: „...an Reinhard Mey!“ - Mich lähmt Entsetzen. Da ist es wieder passiert. Mir wird die Luft knapp, Gedanken überschlagen sich, kein einziger schafft es ausformuliert über die Lippen. Die angemessenen Worte sind unauffindbar, die einzigen, die angemessen wären, auf eine derartige... - ja was eigentlich? Eben - mir fehlen die Worte... Gedanken im freien Fall.

 

Tagelang schleppe ich diese verbale Hinrichtung mit mir herum, versuche selbstquälerischen Grübeleien zu entkommen, doch es mag nicht gelingen. Schließlich will ich wissen, wie es gemeint war. Hätte ich es vielleicht sogar als Kompliment verstehen sollen? Oder war es genau das, was ich herausgehört habe: Ein Urteil, das nach meinem Verständnis der Höchststrafe nahe kommt. Die Klarstellung trifft ins Mark: „Weißt du, Reinhard Mey hab ich früher mal interviewt, der ist ja eigentlich mehr unpolitisch...“ - Schluck. - Hatte versehentlich die CD mit meinen Trotzliedern in der Box gefehlt, auf der meine - wenn auch eher zeitlos - politischen Lieder zusammengestellt waren? Nein, sie war dabei, er hatte sie auch gehört: „Da ist ja auch so viel mit Gefühlen drin. Das ist ja bei Reinhard Mey auch. Deshalb seid ihr auch irgendwie verwandt... .“

 

Wenn es denn so wäre, sollte ich damit zu leben lernen, es einfach akzeptieren, dass meine vergleichsweise jugendliche Stimme - die sich im Verlaufe von drei Jahrzehnten deutlich in tiefere Lagen gesenkt hatte - immer noch manche Hörer an den jungenhaften Lausbuben Reinhard „Karlchen“ Mey erinnerte? Schließlich nahm ich mich ganz anders wahr und hielt meine Lieder sowieso für völlig unvergleichlich, und ganz gewiss für unverdächtig, in irgendeiner Weise den - wie ich fand - oft genug sprachhandwerklich hingeschluderten Texten und Fließband-Kompositionen zu ähneln, mit denen sich der kommerziell erfolgreichste Liedermacher in Deutschland hart an den Schlagerrand bewegt hatte.

 

Ich war noch zu jung, war nicht wirklich dabei, als sich die deutschen Barden in der Zeit der Studentenproteste beim Festival 1968 auf der Waldeck in die Haare kamen. Zwar war ich körperlich anwesend, mitgeschleppt von Schulkameraden, mehr dem roten Wein zugetan als den roten Parolen und den darob geröteten Gesichtern. Sogar Phil Ochs habe ich so verpasst, den radikalsten der amerikanischen „topical songwriter“, der auf seiner Europatour mit Odetta im Hunsrück Station gemacht hatte und vermutlich mehr mit seinem eigenen Leiden an der amerikanischen Gesellschaft befasst war als mit den Barden-Kämpfen im Schatten der Studentenproteste. Ich war noch nicht reif für inhaltliche und künstlerische Befruchtung durch hochkarätige Lehrmeister des Genres. Ich hatte gerade mal angefangen, auf den Gitarrensaiten einzelne Töne aneinander zu reihen: „Daytripper“ statt „I Ain’t Marching Anymore“.

 

Wie ich mir später habe erzählen lassen, meinten diejenigen, die sich den Studentenprotesten verbunden fühlten, es sei genug gesungen, „stellt die Gitarren in die Ecke“, nun sei Zeit für Diskussion. Die entschiedenen Verfechter der Politisierung des Festivals waren die ohnehin politisch profilierten Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Walter Mossmann. Ihnen standen, aufgebracht wegen der ungebührlichen Störung, andere Barden gegenüber. In den per Matrize vervielfältigten „Festival-Nachrichten Nr. 3“ erklärten sie, warum sie sich angesichts latenter Störungsdrohungen durch fanatisierte Radikale schließlich sogar weigerten, überhaupt noch bei einem Nachmittagskonzert aufzutreten:

 

„Wir sind zum Festival „Chanson - Folklore - International  Lied 68“ auf Burg Waldeck gekommen, um unsere Lieder zu singen und um die Lieder unserer Freunde zu hören. Wir wollen keine Störungen während der Konzerte. Daher singen wir heute Nachmittag nicht.“ Unterzeichnet war diese Erklärung zum Beispiel von Guy Caravan, Hanns Dieter Hüsch, Hein und Oss Kröher, Schobert und Black, John Pearse, Colin Wilkie, Hannes Wader, Christof Stählin und damaligem Sangespartner Michael Wachsmann, sowie von Reinhard Mey. Colin Wilkie verlas diese Erklärung auf der Bühne und ergänzte sie in einer kurzen Einleitung, in der er klarstellte, dass die unterzeichnenden Künstler nichts gegen Diskussionen einzuwenden hätten, wenn sie nach ihren Auftritten geführt würden. Warum sollte man auch auf das eine verzichten, um das andere zu tun.

 

Zwischen die Räder geriet vor allem Hanns Dieter Hüsch, und zwar für Jahre. Unbarmherzige Polit-Clowns verleideten ihm auf Jahre jeden Auftritt in der Bundesrepublik Deutschland, beschimpften ihn als Karnevalisten, erreichten so, dass Hüsch einige Jahre nur noch im deutschsprachigen Ausland auf die Bühne ging. Unglaublich aus heutiger Sicht. Hüsch, der doch mit Degenhardt, Süverkrüp und Neuss in einem Atemzug als Grenzgänger zwischen Kabarett und Liedermacherei genannt wurde, sich selbst in der Tradition eines Kurt Tucholsky sah und der bei allem kabarettistischen Bemühen um gelegentliche Lacherfolge - auch von diesen zehren Kabarettisten - nicht um den heißen Brei herumredete, wenn Klartext zum Zustand der Republik gefragt war.

 

Wie anders gestrickt waren beispielsweise die Berliner Liedermacher Reinhard Mey und Hannes Wader. Die Proteste der aufmüpfigen Studenten, die mit Sit-ins Hörsäle besetzten und Ho-Chi-Minh skandierend untergehakt hinter Vietcongfahnen her durch die Straßen rannten, waren ihnen - mutmaßlich - suspekt. Wie gesagt, ich war zu jung und versuche mich heute an Geschichten vom Hörensagen zu erinnern, die mir schon unbegreiflich waren, als ich sie zum ersten Mal vernahm. Reinhard Mey wurde, so die Erzählungen von Leuten, die dabei gewesen sein wollen, als reaktionärer Spießer „entlarvt“. Er habe sich nicht entblödet, in einem Liebeslied „Und für mein Mädchen“ singend seine Bereitschaft zu bekunden, dieses und jenes zu machen, z.b. Gendarm oder Soldat zu werden, die Welt in Brand zu setzen, die Freunde zu verkaufen, das Vaterland zu verraten... Unglaublich - wo blieb denn da der Klassenstandpunkt... in Zeiten gereckter Fäuste nicht mehr als ein sentimentales, anachronistisches Gesäusel eines Barden, der offensichtlich latente Anfälligkeit für faschistoide Lebenssichtweisen offenbarte...

 

Ob es wirklich alles so mitten im verregneten Hunsrück gewesen war, ob sich die geschichtliche Wahrheit dieses Sub-Kulturkampfes noch aufdecken lässt? Für mich und mein verletztes Ego, angekratzt durch mangelnden Respekt gegenüber meinen aktuellen künstlerischen Ansprüchen und meiner postulierten politischen Relevanz als Liedermacher, war die historische Korrektheit völlig egal. Was sollten mir geschlagene Schlachten, die in ihrer Absurdität damit auf die Spitze getrieben worden waren, dass doch kurz nach Hüschs abgebrochenen Auftritt im Waldeck-Festzelt an selber Stelle die Blödeltruppe von Ingo Insterburg und Co. erste Triumphe feierte und damit der Flach-Comedy von heute den Weg ebnen konnte. Wo blieb, bitte schön, da das Politische? Wenn dies „erlaubt“ sein sollte, warum dann nicht auch harmlose Liebesliedchen?

 

Ich habe Ende der sechziger Jahre meine Fingerfertigkeit auf der Gitarre mit Folksongs aus dem angloamerikanischen Sprachraum trainiert, dann Hannes Wader „entdeckt“ und meine Fähigkeiten mit seinen Liedern geschult. Die einzige Hilfe, die ich je in Anspruch nahm, nachdem ich mit 17 Jahren eine seit einem Jahrzehnt im Schrank liegende Gitarre ausgepackt hatte, war eine Grifftabelle. Das Gehör und der Kapodaster waren meine wichtigsten Helfer bei der Eroberung des Instruments. Als „Liedernachsänger“ stellte ich mir mein Repertoire aus Songs zusammen, die sich in Hitparaden und Pfadfinderliederbüchern fanden - und dann kamen Lieder dazu, die neu waren, für mich jedenfalls: Von Liedermachern, die älter waren als ich, aber nicht so alt wie die Generation der Eltern. Songs der für mich aktuellen Protestsänger Dylan und Donovan, auch wenn ich als Verwerter Jahre hinterher hinkte, von Simon und Garfunkel bis zu den Beatles, Spirituals, Gospels, traditionelle Folksongs. „Kumbaya, My Lord“ und „Go Down Moses“ über die „Bridge Over Troubled Water“. Alle für mich geschrieben.

 

Aber eben in Fremdsprache. Schöner fand ich es, wenn man mich verstehen konnte. Und so bediente ich mich wählerisch: Viel von Hannes Wader, eins von Dieter Süverkrüp, nichts von Degenhardt, einige Biermann-Werke, ein paar Roski-Couplets und eine Hand voll Lieder von - Reinhard Mey. Jawohl, und darunter auch „Und für mein Mädchen“. Problembewusstsein zu diesem Lied, zur „politischen Fragwürdigkeit des Textes“, ging mir völlig ab. Ich fand es einfach schön, und frisch verliebt fand ich es passend. Hingegen zeichnete sich - schon damals - ein anderes „Problem“ ab: Ich sang ja allein zur Gitarre deutsche Lieder. Manche Leute, die ich damit zu erfreuen trachtete, kannten bereits einen „Liedermacher“: „Aha, du bist so was wie Reinhard Mey...“ damals fand ich die Unterstellung zwar irritierend, aber noch nicht ehrenrührig. Das kam erst später.

 

Zu singen gab’s viel - aber wer auf die Bühne drängt, kommt irgendwann nicht darum herum, sich mit der Forderung nach eigenen Liedern auseinander zu setzen, selbst wenn der Ruf nur im eigenen Kopf laut wird. Früher oder später wird er unüberhörbar und man muss sich wohl oder übel der Herausforderung stellen. Weil meine ersten ganz eigenen Versuche den eigenen Qualitätskriterien nicht entsprachen, half ich mir mit einer Krücke über die „Not“ hinweg. Ich habe fremdsprachige Lieder, die ich mochte und die mir wichtig waren, in meine eigene Sprache geholt und mit meinen Worten gesungen. Mal waren es Übersetzungen, so nah wie möglich am Original, mal Übertragungen mit ausreichender künstlerischer Freiheit, und gelegentlich nahm ich mir eine Melodie und machte zu einem ganz anderen Thema einen neuen Text, der näher an mir war als am Original. So fand ich eigene Lieder mit politischen Inhalten und agitatorischen Absichten, sowie eigene Lieder mit poetischen, privaten Texten, deren Botschaften sich eher an eine Person richteten - wobei diese für jeden Sänger oder Zuhörer anders heißen konnte.

 

So „geriet“ ich an Singer/Songwriter, die in ihren Liedern mehr Substanz transportierten als diejenigen, die die internationale und nationale Pop-, Rock- und Schlagerszene mit ihren eher inhaltslosen Liedchen bereicherten. Neben Bob Dylan, an dem sich jeder abzuarbeiten hatte, waren dies Anfang der siebziger Jahre vor allem Phil Ochs und Tom Paxton. Über beide wusste ich nicht viel und stützte meine Wertschätzung allein auf ihre Songs. Beide hatten kompromisslose, agitatorische, satirische Protestsongs geschrieben, klar in Aussage und Botschaft, musikalisch in der Tradition der Folksongs, wie sie von Woody Guthrie und Pete Seeger gesungen worden waren, aber eben frischer und aktueller.

 

Phil Ochs faszinierte mich durch seine - wie ich fand - einzigartige Stimme, an der sich allerdings die Geister schieden, und durch seine wunderschönen Melodien. Die Texte waren durch seinen Slang nicht so gut zu verstehen. Aber soweit ich sie verstand, ließen sie an Klarheit nichts vermissen. Bei Tom Paxton, der musikalisch mit 08/15-Melodien und unspektakulärer Begleitung häufig eher hausbacken und langweilig klang, war es die thematische Vielfalt, die ihn für mich heraushob. Da sang einer mit einer nahezu unverschämten Glaubwürdigkeit nebeneinander scharfzüngige Politsongs und zu Herzen gehende Liebeslieder, freche Kinderlieder standen neben vertonten Gesellschaftssatiren, er griff als einer der ersten das Thema Umweltzerstörung auf und sang auch ganz einfache, sentimentale Abschiedslieder. Und alles kam glaubhaft rüber. Damit hielt er mir Trauben vor die Nase, nach denen ich mich strecken wollte.

 

Gleich von Anfang an waren unter meinen „vorsingbaren“ deutschen Liedern - die niemand außer mir sang, weil meine Bearbeitungen von niemandem sonst übernommen wurden - politische und „privat-poetische". Ich übertrug „topical songs“ von Ochs und Paxton, versuchte mich an eigenen Bearbeitungen, die Missstände in Deutschland anprangerten, und ich übersetzte Liebeslieder von Paxton, bemühte mich in meinen deutschen Versionen von Paxtons Gesellschaftssatiren um genau soviel Witz wie er und wagte - ohne eigene Elternerfahrung - erste Versuche, seine Kinderlieder zu übersetzen.

 

Dies alles hat geschult. Die Auseinandersetzung mit Themen, die Suche nach den richtigen Worten und Formulierungen, die in ein vorgegebenes Zeilen- und Versschema passen sollten, war eine hervorragende Übung, Sprache in strenge Formen, in ein vorhandenes Raster zu gießen. Über kurz oder lang war klar, dass ich bei eigenen Liedern landete, die ich an meinem vorhandenen Cover-Material maß. Nach und nach scheute ich nicht mehr den Vergleich, denn das Ergebnis stellte mich zufrieden.

 

Und so wie ich bei Übertragungen und Übersetzungen versucht hatte, eher im Bauch ein eigenes Gefühl zur aufgegriffenen Thematik zu entwickeln als im Kopf eine Position zu finden, versuchte ich nun auch mit eigenen Liedern - gleich ob politisch oder privat-lyrisch - Gefühl auszudrücken und nicht mit Wissen zu überzeugen. Nicht die scharfsinnige Analyse schien mir reizvoll, um durch Sezierung des Problems den Verstand zu überzeugen. Ich suchte das bewegende Bild, rang um Worte, die unter die Haut gingen, vielleicht sogar zu Tränen rührten, eben Gefühle ansprachen. Ich wollte, dass meine Zuhörer beim Hören mitfühlten, dass sie mit mir fühlten, ich ihr Herz - gelegen irgendwo zwischen Bauch und Kopf - erreichte. Ob mir dies gelang, gelingt, sollen andere beurteilen. Manche sperren sich dagegen, dort berührt zu werden, wo ich sie packen will, andere sind offener, vielleicht auch zu offen.

 

Im Grunde hat sich an diesem Ansatz, diesem Ehrgeiz, der mich als „Liedermacher“ umtreibt, seit den ersten Bemühungen Anfang der siebziger Jahre nichts geändert. Die Rahmenbedingungen zur Auskostung künstlerischer Freiheit sind im Grunde geblieben: Es geht immer noch nebenher und nicht hauptberuflich. Die Existenzgrundlage wird anders gesichert, und als Preis dafür wird mir Zeit gestohlen, in der ich Lieder schreiben könnte, wenn ich nicht journalistisch arbeiten müsste. Damals musste das Studium vorgehen. Popularität und Bekanntheit sind Illusion, doch die Enttäuschung darüber, dass eine professionelle PR-Unterstützung nicht zu bekommen ist, hält sich in Grenzen. Der Gewinn aus dieser Einsicht in die Notwendigkeiten der Wirklichkeit ist tatsächliche künstlerische Unabhängigkeit.

 

Seit verschiedenen Schlüsselerlebnissen mit der Plattenindustrie Ende der siebziger Jahre weiß ich diese Unabhängigkeit zu schätzen. Auf meiner ersten Langspielplatte „Kein Grund zur Aufregung“ (1978) fanden sich am Ende unter den eigenen und den Übertragungen auch Lieder, die bei mir keine oberste Priorität hatten, die aber der Produzent Knut Kiesewetter für die Vermarktung dabei haben wollte. Durch die Studioproduktion mit Begleitmusikern klang alles am Ende schwerfälliger, als es mir lieb war.

 

Durch diesen Frust erfahrener, wollte ich bei der zweiten LP „Abrechnung“ (1979) alles besser machen. Knut Kiesewetter ließ mir freie Hand, ich hatte nur eigene Lieder ausgesucht, sie alleine eingespielt und so gemischt, dass Liebeslieder und politische Lieder nebeneinander standen. Die Kölner Plattenfirma „Neue Welt“, der unabhängigen politischen Linken nahestehend, machte vor einem Vertrag zur Bedingungen, dass ein Liebeslied gestrichen werden sollte. Ich lehnte ab - die LP erschien nur in der Schweiz in einem Verlag, der mir keine Vorschriften machte. Der Verkauf hat sich kaum gelohnt, professionelle Vermarktung war allerdings auch Fehlanzeige. Aber wer nebenher seinem Beruf nachgeht, darf sowieso nicht meckern. Denn auf Tour gehen kann man dann sowieso nicht. Der Urlaub ist in der Regel anders verplant.

 

Diese „Platten“-Erfahrungen wurden durch andere aus dem Bereich des alternativen Show-Bizz ergänzt. In meiner Band „Saitenwind“ war ich einer von vier Musikern, die alle ihre Talente einbrachten und sich gleichzeitig selbst zurücknahmen. Daraus entstand ein einzigartiges Repertoire aus fremden und eigenen Songs, die in ihrer Mischung streckenweise politischen Protest und Comedy miteinander versöhnten. Brecht-Lieder aus Theaterstücken wie „Mutter Courage“, „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ oder der „Dreigroschenoper“ wurden genauso gesungen wie „Liedermacher“-Lieder von Bier- und Mossmann, traditionelles deutsches Liedgut „von unten“ genauso wie unsere eigenen Lieder zur Lage. Ich selbst steuerte, gemessen an meinem „Output“, relativ wenig bei, oder andersherum: Mir war klar, dass ich mit eher privat-poetischen Liedern wenig Chancen hatte, bei den politisierteren Kollegen zu landen. Die Konsequenz: Hier hatte ich Gelegenheit, meine Protestlieder loszuwerden. Mir fielen ja genug ein, so dass die Kollegen schon spotteten: „Der geht auf’s Klo und kommt mit nem Lied wieder...“

 

Nie - ich bin mir ziemlich sicher - wären wir auf die Idee gekommen, ein Lied von Reinhard Mey zu singen, nicht mal sein Lied „In Tyrannis“ über die Qual eines gefolterten Häftlings, geschrieben irgendwann zu einer Zeit, als auch für ihn die Karriere als enger Verwandter der Schlagersänger, hoch „über den Wolken“ der früheren Waldeck-Kumpanen, noch in weiter Ferne lag. Dieses Lied entstand irgendwann in den Jahren, als er mit „Freitag, den 13.“ noch Einblick in das liebenswürdige Chaos eines frischverliebten Langzeitstudenten bot. „Die heiße Schlacht am kalten Büffet“ war für „Saitenwind“ genauso wenig ein Thema wie „Die Diplomatenjagd“. Wir hatten unsere Basis in den Bürgerinitiativen der Friedensbewegung und Atomkraftgegner. Und denen - darüber gab es bei uns überhaupt keine Diskussion - wollten wir nicht mit Liebesliedern kommen.

 

Und dann erfrechte sich Mey zu Spottgesängen, die seine tiefsitzende Kleinbürgerlichkeit zu offenbaren schienen: Ein Anti-Liebeslied wie „Annabelle“, oder sein Bekenntnis, er wolle „mit keinem Haufen raufen.“ Solche Lieder trugen wesentlich dazu bei, dass ich auch solistisch keine Neigung mehr verspürte, überhaupt auf Mey-Lieder zurückzugreifen. Die Distanz wuchs, der Vergleich „Du singst wie...“ begann lästiger zu werden. Ich sah mich in einer völlig anderen Liederwelt, mit anderen Liedern, anderem Publikum, nahezu ohne Berührungspunkte. Ich sah nichts an mir, was mich in eine Nähe zu Reinhard Mey hätte stellen können. Reinhard Mey wurde mir egal, seine Lieder, seine neuen Werke, interessierten mich längst nicht mehr.

 

Als ich „Saitenwind“ in Bonn längst verlassen und meinen Brotberuf in Stuttgart erlernt hatte, durfte ich Anfang der achtziger Jahre dem Lieblingsliedermacher aller deutschen Schwiegermütter physisch nähertreten. Jawohl, auch ich habe ihn mal interviewt, als Lokalredakteur einer kleinen schwäbischen Tageszeitung, als er, der populärer Barde, im örtlichen Kulturtempel vor einem Generationen übergreifenden Publikum im Sonntagsstaat ein ausverkauftes Konzert gab und ich ihm kurz vorher in der Garderobe meine Fragen stellen durfte.

 

Warum in seinen Liedern so viele Zeilen so holprig gereimt seien und verhältnismäßig viele Worte beim Gesang gegen die gewohnte Sprechweise betont würden, wollte ich neugierig wissen und so auf eine Schlampigkeit in der Textarbeit des Konkurrenten eingehen, die mir häufig aufgefallen war und auf die ich im Gespräch mit Interessenten an der Liedermacherei nur allzu gern hinwies. Das sei Absicht, gab er souverän zurück - ganz nach der Devise des alten Baumes, dessen Rinde das Kratzbedürfnis eines Schweins locker wegsteckt. Ich habe dann nicht mehr nachgefragt, ob es auch zutraf, dass er seine Lieder in harter, mehrstündiger  täglicher Schreibtischarbeit verfasste, auf der Grundlage sorgsam geführter Karteikästen, in denen er seine Einfälle einsortierte. Ich habe mir gedacht, dass es nicht anders sein könnte, bei aller Schwiegermütter Liebling.

 

So blieb ich bei meiner Feststellung, dass man sich - er und ich - auf unterschiedlichen Gleisen bewegte, zwischen denen vielleicht irgendwann mal Weichenverbindungen bestanden hatten, die aber längst hinter uns lagen. Ich fand meine Rockband, versuchte das Konzept „Gerd Schinkel mit Krise - rockt in den Kopf“, wurde härter im Sound, assoziativer in den Texten, ließ mir aber immer noch keine falsche Wortbetonung, die gegen das natürliche Sprachgefühl verstieß, durchgehen - und wenn es doch nicht anders zu gehen schien, hatte ich einen andauernden Grund zum Ärger und das Lied kam mir nicht so leicht über die Lippen. Qualität hat ihren Preis, und der Qualitätsanspruch seine Folgen. Und weil sich kommerziell sowieso nichts ausschlachten ließ, was mir aus der Feder floss, war es auch egal.

 

Meine Rockphase war nach zwanzig Auftritten abgehakt, denn soviel Lautstärke tat mir nicht gut. Am Ende hatte ich nicht mal mehr Gitarre gespielt und nur noch versucht, mir als „Rampensau“ die Seele aus dem Leib zu krähen. Die intensiveren Pflichten als Alleinernährer, Vater von zwei Kleinkindern und Vorstandsmitglied bei „terre des hommes“ ließen kaum Zeit für Lieder, die Hornhaut an den Fingerkuppen schwand, ein Publikum gab es nach unserem Umzug nach Köln auch nicht mehr. Und plötzlich, als unsere Tochter etwa drei Jahre alt war, entdeckten unsere Kinder die Welt der Medien, die speziell für sie gemacht zu sein schien, und vor allem Kinderlieder.

 

Ich habe mir eine Weile angehört, was da so von Frederik Vahle und Rolf Zukowski seinen Weg in unser Kinderzimmer und in den Kassettenrecorder im Auto fand - und dann packte mich der Ehrgeiz. In der Erinnerung daran, dass ich doch auch mal Lieder geschrieben hatte, versuchte ich mich an Themen, die unseren Kindern aus ihrem eigenen Alltag vertraut waren, versuchte sie in klare Texte zu fassen und mit einer einfachen Melodie zu versehen: Der Beginn einer etwa acht Jahre währenden Phase, in der ich nahezu ausschließlich Kinderlieder schrieb und gelegentlich auch vor Kindern vortrug: in Kindergärten, Stadtbüchereien, auf Schulfesten, mitunter begleitet von unseren Kindern, wobei unser Sohn Jannik, fünfzehn Monate jünger als unsere Tochter Anneli, sich als weitaus musikalischer erwies.

 

Als unsere Tochter dann zur weiterführenden Schule wechselte und sich eine neue musikalische Welt auftat, in der „Ace of Base“ oder die „Kelly Family“ weitaus interessanter waren als der eigene (damals noch kurzhaarige) Vater, schien es wieder an der Zeit, sich ein neues Publikum zu erschließen. Ob sich Reinhard Mey je so intensiv mit Kinderliedern befasst hat, weiß ich nicht - ist mir auch wurst. Komischerweise hat mich in jener Zeit keiner mit ihm vergleichen wollen. Mag sein, dass Kinderliedermacher weniger als „Liedermacher“ wahrgenommen werden.

 

So rückte wieder das „erwachsene Publikum“ in mein Blickfeld, und ich versuchte dort wieder anzuknüpfen, wo ich Anfang der achtziger Jahre, vor dem Griff nach den „Erfolgssternen“ mit der Rockband „Krise“, als „Liedermacher“ aufgehört hatte. Gelegentlich fielen mir komplett eigene Lieder für Erwachsene ein, private, politische, und daneben habe ich mich wieder intensiver als Übersetzer versucht. Ich widmete meine Aufmerksamkeit mit mehr Konzentration ausgewählten „Liedermachern“, die in anderen Ländern mit guten Liedern erfolgreich waren und die mich fesselten. Dies waren neben Phil Ochs, über den ich ein ganzes Porträtprogramm und einen Essay schrieb, englischsprachige Sänger wie Eric Andersen, Harry Chapin, Bruce Cockburn, Donovan, natürlich auch wieder Bob Dylan, John Hiatt, Gordon Lightfoot, Tom Paxton, Leon Rosselson, Richard Thompson und Townes van Zandt. Hinzu kamen Sänger aus nicht-englischsprachigen Ländern, die sich gleichwohl aber von den gleichen Vorbildern wie ich befruchten ließen und diese Einflüsse, z. B. von Bob Dylan, mit der Liedertradition ihrer eigenen Heimat zu verknüpfen trachteten: der Neapolitaner Edoardo Bennato, der Chansonsänger Francis Cabrel, der Spanier Joaquin Sabina.

 

Die Auseinandersetzung mit diesen Liedern und Liedermachern, mit ihrer Kunst, ihrem "Handwerks"-Stil, ihren Themen und kompositorischen Eigenarten, hat mich ungemein befruchtet. Meine neuen gemischten Programme, in denen neben gar nicht so vielen eigenen Liedern viele Übertragungen der Lieder von anderen Künstlern standen, waren musikalisch deutlich abwechslungsreicher als alles, was ich vorher auf der Bühne geboten hatte, weit weg vom dürftigen Geschrammel und Geklimper, das ich noch von der überwiegenden Mehrheit der weniger bekannten deutschen „Liedermacherkonkurrenz“ in unangenehmer Erinnerung hatte. Auch thematisch hatte ich nun sogar mehr zu bieten als der von mir verehrte Tom Paxton. Joaquin Sabina „half“ mir bei der Annäherung an „erotische“ Lieder, mit denen ich schon immer mein Repertoire bereichern wollte.

 

So gefestigt und mir selbst genügend, hielt ich mich auch aus der einschlägigen Szene fern, brauchte kein „Bardentreffen“ oder „Liedermacherfestival“, sondern versuchte mich in eine Szene zu schleichen, die es so wohl gar nicht gab: internationale Singer/Songwriter, die nur an einem interessiert zu sein schienen: Mit guten Liedern zu überzeugen, ganz egal in welche Schublade sie später einsortiert wurden. Und ich entdeckte Berührungspunkte, die mir vorher kaum in den Sinn gekommen wären: Zur Countrymusic, die in ihren deutschsprachigen Spielarten fatalerweise der Volksmusik und Schlagerbranche überlassen worden war, in der sich Truckstop, Tom Astor und Gunter Gabriel sogar noch als Exoten tummeln durften.

 

Zu entdecken gab es auch die „Roots-Music“ mit den Outlaw-Country-Sängern wie Willie Nelson, Waylon Jennings, Steve Earle und natürlich Johnny Cash. Querverbindungen fielen auf, gegenseitige Befruchtungen - und wenn dies überall so passierte, mochte ich mich nicht dagegen sträuben. Ich versuchte mir dieses Genre zu erschließen und dort mitzumischen - mit Liedern, die für mich nicht anders waren als die, die ich schon zwei Jahrzehnte vorher geschrieben hatte: Übers Leben, über die Liebe, übers Lernen, Arbeiten, Leiden und Fröhlichsein, Trauer und Trost, Hoffen und Bangen, was auch immer Gefühle bewegte, ganz gleich, ob es jemanden geben mochte, der sich dafür interessierte.

 

So ist es noch heute. Künstlerisch kann ich machen, was ich will, und ich mache, was ich will. Und seit ich mir in bescheidenem Umfang die nötigen Produktionsmittel angeschafft habe, bin ich, wenn ich meine Lieder aufnehmen und Interessenten anbieten möchte, auf niemanden angewiesen. Meine Aufnahmen mache ich in der kalten Sauna alleine oder - seit kurzer Zeit - mit technischer Hilfe durch einen Freund, der den Aufnahmeprozess regelt und die anschließende Feinarbeit besser beherrscht und dankenswerterweise übernimmt. CDs brenne ich selbst, und zwar nach Bedarf, und wer sie haben will, kann sie nur bei mir bekommen, auf Konzerten oder auf Bestellung, wenn sich jemand auf meine Webseite verirrt hat. Freiheit. Niemand redet mir rein. Ich singe, wie mir die Themen kommen, und sie kommen ausnahmslos alle durch ein Ventil. Sie sind schlicht das Ergebnis eines Entlastungsprozesses, mit dem ich mich von beruflichem Druck zu befreien gelernt habe. Sie sind das Resultat effektiv umgelenkter Kreativität, die sich künstlerisch Bahn bricht. Aber dies - mit Verlaub - bei einem Anspruch, den ich für mich selbst hochgeschraubt habe.

 

Mein Ziel liegt irgendwo zwischen dem bestem der geheimsten Liedermacher und dem Geheimstem der Besten dieser Zunft. Zu den Besten der Liedermacher zählen sich gewiss viele - auch geheime - Kolleginnen und Kollegen und bemühen sich, den Anspruch einzulösen. Doch die Schublade der Liedermacher ist seit Ende der siebziger Jahre unbehaglich, seit sich zu viele darin breit gemacht haben, die eher Kunstgewerbe abliefern als Kunst. Zu viele, die ein paar Reime zu Zeilen und Versen verwursten und mit ein paar einfallslosen Harmonien unterlegen, erklären das Ergebnis zum Lied, eine Sammlung derartiger Ergüsse zu einem „Programm“, suchen dafür ein begeistertes, brauchen aber eher ein geduldiges Publikum, drängen sich den Veranstaltern auf und warten auf Beifall und Gage - irgendwie auf der Suche nach Axelschweißnähe zum erfolgreichen Wolkenüberflieger mit der grenzenlosen Freiheit, der sich mittlerweile in Maschendrahtzaun-Zänkereien mit seiner Sylter Nachbarschaft verstricken lässt. Dies ist meine Riege nicht.

 

Aber mein Versuch der „eigenen Ausgrenzung“ ist hilflos, zumal diese Bemühung akademisch bleibt. Ich mache Lieder, andere machen auch Lieder - alle sind Liedermacher, auch solche, die sich als ganze Gruppe abzugrenzen versuchen und das, was sie machen, nicht „Liedermachen“ nennen, sondern „Liedermaching“, und zur Abgrenzungsrechtfertigung „den anderen“ der „alten Generation“ attestieren, dass sie lediglich das Bejammern der eigenen Befindlichkeit zur zweifelhaften Kunst erhoben hätten, während dabei eindeutig der Spaßfaktor zu kurz käme. Das sei nun bei den Vertretern der neuen Generation, die eben „Liedermaching“ betrieben, anders. Na gut, wenn es denn den eigenen Profilierungsbedürfnissen entgegenkommt... Lieder machen sie alle, und dass alle Lieder aus der einen oder anderen Schublade gut wären, dürfte wohl niemand ernsthaft behaupten.

 

Und niemand wird auch behaupten können, ich wäre ein Nachfahre der Blödelbarden vom Schlage der Insterburgs, und damit jemand, der Comedy mit Liedern versuche. Mitnichten, allerdings habe ich nichts dagegen, wenn meine Zuhörer in dem einen oder anderen Lied Pointen entdecken, über die sie lachen können. Meine Stärke aber - soviel habe ich aus den Reaktionen meines Publikums über nahezu drei Jahrzehnte hinweg begriffen - liegt mehr bei den leiseren, poetischen, lyrischen Liedern, die persönliche Gefühle ausdrücken und auf Einzelpersonen ausgerichtet sind, und weniger in agitatorischen Protestsongs, so wichtig mir selbst diese Lieder sein mögen.

 

Brandaktuelle politische Lieder fallen mir inzwischen auch nicht mehr so viele ein wie in den ersten Jahren meiner Liederschreiberei. Das liegt einfach daran, dass mein innerer Druck schneller reguliert wird, wenn ich als politischer Journalist die beruflichen Möglichkeit nutzen kann, mich in einem Kommentar in Prosa zu diesem oder jenem empörenden Thema zu äußern. Ist das passiert, ist der Druck weg und treibt mich nicht mehr so wie früher, dieses Thema auch noch gereimt und vertont zu bearbeiten. Die politischen Lieder entstehen somit seltener, dafür haben die privat-persönlichen Betrachtungen eine größere Chance, mit den wenigen interessanten Melodien, die mir so als musikalischem Laien gelegentlich einfallen, kombiniert zu werden. Was den Vorteil hat, dass diese nicht so tagesaktuellen Lieder eine längere Haltbarkeit haben, denn sie werden nicht so schnell von der Aktualität überholt - ich kann sie länger im Programm singen. Die Aussagekraft dieser Lieder halten viele meiner Zuhörer ohnehin für größer, und mir bescheinigen sie, ich sei „authentischer“ mit diesen privaten Liedern.

 

Inzwischen nehme ich die Qualitätsunterschiede selbst wahr - und bin um so überraschter, dass bei den wenigen Juroren der Liederbestenliste, die überhaupt meine Lieder zur Kenntnis nehmen und bewerten wollen, die politischen Lieder besser ankommen als andere, die ich selbst für weitaus gelungener halte. Sogar Songs, die für mich eigentlich nur deshalb auf eine CD kamen, damit diese nicht zu kurz wurde, fanden den Weg in die Bewertung - auch wenn sie nur hintere Plätze erreichten -, während persönlich-private, aber doch auch auf andere übertragbare Lieder, die im Publikum den meisten Zuspruch finden, unerwähnt bleiben. Ich muss nicht alles verstehen. Offenbar finden in der Jury politische Lieder größeren Zuspruch. Nun gut, ist ja nicht so, als wenn mir gar keine mehr einfielen.

 

Und immerhin: Im Sommer 2004 wird die Liederbestenliste von einem Liedermacher angeführt, der eigentlich noch nie im Verdacht stand, als politischer Liedermacher zu gelten: „Alles o.k. in Guantanamo Bay“ heißt das Spitzenreiterlied, entnommen der CD „Nanga Parbat“, von der es noch weitere zwei Titel in die Wertung der 50 besten Lieder des Monats August geschafft haben: auf Platz vier beispielsweise das Lied „Die Waffen nieder“, und der Titelsong immerhin noch auf Platz 40. Die CD ist von Reinhard Mey. Tut man also Reinhard Mey bitter Unrecht, wenn man ihn immer noch in die „unpolitische“ Liedermacherschublade wegsortiert?

 

Das soll sein Problem bleiben. Mein Problem ist das „Unrecht“, das mir angetan wird, wenn man mich mit dem Verweis darauf, ich sei doch eher unpolitisch - was ich entschieden bestreite - ins falsche Schubfach steckt. Also: Aufbegehren nach der Devise „Hilfe, ich bin doch auch ein Protestsänger - holt mich hier raus...“ Aber wen juckt der Aufschrei eigentlich? Warum kann es mich immer noch stören, wenn mich jemand unter falschen Voraussetzungen („der ist ja eher unpolitisch“, „der singt ja mehr über Gefühle, das machst du doch auch...“) mit jemandem in einen Topf wirft, mit dem ich nichts zu tun habe? Oder haben sich die beiden Gleise, auf denen wir fahren, doch wieder einander angenähert, gibt es sogar Weichen, die beide verbinden?

 

Gut - wir singen beide Lieder in unserer eigenen Sprache und begleiten uns dazu auf der Gitarre. Ob sich noch mehr Ähnlichkeiten finden ließen, ist mir gelinde gesagt, piepegal. Und wenn er - auch - gute politische Lieder singt, ist das ja kein Schaden, sondern könnte auch ein Grund sein, ihn zu respektieren. Immerhin – mit seinem politischen Lied „Alles o.k. in Guantanamo Bay“ über amerikanische Folterpraktiken ist er in der Liederbestenliste ganz vorne gelandet. Ich habe auf meiner CD „Unentdeckt“ ein Lied über die amerikanische Foltermagd Lynndie England. Das könnte Vergleiche nahe legen. Aber ich muss ja nicht gleich jemandem um den Hals fallen, der den Vergleich in alter, ungeliebter Weise bemüht und mir wieder mit dem ewigen „Weißt du, an wen du mich erinnerst...“ kommt.

 

Aus guter alter Tradition klammere ich mich an die Distanz. Wer möchte schon gern immer wieder in der Nähe eines unverkennbaren Schwiegermütterlieblings angesiedelt werden, abgestempelt als seinesgleichen auf Lebenszeit, des eigenen Profils nicht einmal beraubt, sondern ohne Chance, mit den eigenen Konturen wahrgenommen zu werden. Da gilt es sich zu wehren, mit Zähnen und Klauen. Ein Leiden mit Leidenschaft. Wenn denn schon unbedingt verglichen werden soll: Warum gerade ich? Wieso gerade (d)er?

 

Gerd Schinkel                          2004