WARUM ICH IMMER NOCH SINGE
Zwischenbilanz und Standortbestimmung Herbst 2023
In den vergangenen zwei Jahren von Ende 2021 bis heute habe ich ein anhaltendes Wechselbad aus bewegender demonstrierter Wertschätzung und ernüchternder demonstrativer Geringschätzung erlebt. Diese Erfahrung ging einher mit unerbittlicher Ausgrenzung aufgrund absurder und unhaltbarer toxischer Vorwürfe, die bei mir zu einer erheblichen Traumatisierung geführt haben. Von diesen rufmörderischen Vorwürfen wurde ich aus heiterem Himmel getroffen.
Sie wurden von zwei vermummten Frauen aus der so genannten Klimagerechtigkeits-bewegung erhoben mit Verweis auf zwei von mir verwendete Wörter in einem Liedertext, und man unterstellte mir, ein Jahr nach meinem fünfzigsten Bühnenjubiläum, Antisemitismus und Verwendung von Codewörtern aus der rechtsextremen Ecke. Ein von Bemühungen um Deeskalation begleiteter Versuch einer Klärung im Gespräch, auch in Verbindung mit einer Mediation, wurde von Stimmung machenden Vertretern aus der woken Blase in „Lützi lebt“ schroff abgewiesen. Das Klima war vergiftet, von Gerechtigkeit keine Rede.
Nachdem einige Zeit vergangen ist, ohne dass, trotz entsprechender Bemühungen, irgendetwas von Seiten der woken Rufmörder geschehen wäre, um den Vorwurf aus der Welt zu schaffen, sehe ich mit etwas Abstand nun den Anlass für eine Zwischenbilanz und eine nachjustierte Standortbestimmung als organisatorisch ungebundener, eigene Lieder singender Wegbegleiter fortschrittlicher sozialer Bewegungen.
Ich verstehe mich, nach meinem Wechsel in den Ruhestand im Sommer 2013, nach wie vor als Journalist in der Fortsetzung meiner früheren Arbeit für das Politikressort im öffentlich-rechtlichen Hörfunk – nunmehr jedoch mit anderen Mittel und freischaffend, insofern unabhängig von Rahmensetzungen durch Vorgaben aus einem Rundfunkvertrag oder Anweisungen von Vorgesetzten. Einen Presseausweis für meine selbständige Arbeit, die in Veröffentlichungen auf meinem YouTube-Kanal mündet, habe ich gleichwohl.
Ich sehe mich nunmehr in der weiten Nachfolge jener singenden Kollegen, die vor vier Jahrhunderten mit einem Rucksack voller Flugblätter von Ort zu Ort, Dorf zu Dorf übers Land zogen und nach der Erfindung der Druckerpresse, aber vor der Verbreitung von regelmäßig erscheinenden Zeitungen die Menschen über die Neuigkeiten aus der weiten Welt, zum Beispiel aus dem Dreißigjährigen Krieg, informierten, auch wenn diese dann schon ein paar Monate alt waren…
Ich reagiere, ähnlich wie diese fahrenden Sänger zu früheren Zeiten, mit Liedern auf Ereignisse, Begebenheiten, Begegnungen und Wahrnehmungen, auf Gefühle, Einfälle, Erinnerungen, Assoziationen und Erwartungen. Die Liedertexte entstehen in der Regel spontan, ohne Kalkül über ihre Nutzbarkeit und ungeplant.
Planbar sind für mich erst später die Zusammenstellungen vorhandener Lieder aus dem Fundus zu Programmen für kürzere Auftritte oder längere Konzerte, die thematisch oder unter anderen Gesichtspunkten, beispielsweise Kurzweiligkeit zur Auflockerung zwischen Ansprachen, für verschiedene gegebene Anlässe sortiert sein können. Damit kann ich auch gegebenenfalls auf nachvollziehbare Wünsche von Organisatoren oder Veranstaltern reagieren.
Mein Repertoire ist gestützt auf sechs massiven „Säulen“, was nicht nur an der größeren Anzahl der Lieder zu bestimmten Themenkomplexen deutlich wird, sondern auch an vielen speziellen Anlässen von Auftritten bei Aktionen oder Kundgebungen oder an den Organisationen, die diese Konzerte oder Auftritte veranstalten.
Dies sind die sechs „Säulen“:
1. der
Widerstand gegen den wahnhaften Drang, sich den Propheten und Lobbyisten der Atomenergie auszuliefern (dokumentiert auf 7 CDs),
2. der
Widerstand gegen atomare Bewaffnung sowie Bedrohungen des Friedens und gegen Gewalt in der Gesellschaft schlechthin, (dokumentiert auf 6 CDs)
3. der
Widerstand gegen Rechtsextremismus und den unverkennbaren Rechtsdrift sowie reaktionäre Entwicklungen in der Gesellschaft (dokumentiert auf 4 CDs)
4. der
Widerstand gegen menschenverachtende Ausgrenzung von Flüchtenden, die sich auf der Flucht vor Gewalt, Not und Hunger auf die Suche nach Frieden begeben und in der verzweifelten Sehnsucht auf eine
Zukunftsperspektive ihre Heimat verlassen und dorthin drängen, wo sie sich ein sicheres und besseres Leben und Überleben erhoffen (dokumentiert auf 5 CDs),
5. der
Widerstand gegen die Ignoranz, überlebensbedrohliche Veränderungen des Klimas durch gewissenlose Verhaltensweisen wahrzunehmen und den folgenden Generationen die Zukunftsperspektiven zu nehmen
und ihnen die Lebensgrundlagen zu rauben (dokumentiert auf einer 30 CDs umfassenden Liederchronik zum Thema "Klimaschutz und braune Kohle", entstanden zwischen 2017 und 2023),
6. der
Widerstand gegen die deutlich steigende Repression hierzulande gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement zur Bewahrung demokratischer Freiheiten und gegen Kriminalisierung vom Mainstream
abweichender Meinungen (dokumentiert auf 4 CDs),
Hinzukommen Lieder auf sechs „Stapeln“ über individuelle Herausforderungen des Lebens und des Alltags, wie:
1. den fortschreitenden Prozess des Alterns,
2. die Turbulenzen der Gefühle wie Liebe, Freude, Glück, Angst, Sorge, Trauer, Ablehnung, Hass,
3. die familiäre Einbettung in das stabile Gerüst von drei Generationen,
4. der Umgang mit beruflichen Aufgaben und Verwerfungen sowie mit gesundheitlichen Problemen,
5. das individuelle Dasein im Hier und Jetzt und die Reflexionen über individuelle Prägungen und Erinnerungen aus der Vergangenheit,
6. die Auseinandersetzung mit Konfrontationen inmitten der Weltläufe und dem steten Wandel der Themen, die den gesellschaftlichen Diskurs betreffen.
Mein Fundus an eigenen Liedern, der sich auf diesen sechs „Säulen“ und sechs „Stapeln“ angesammelt hat, ist beträchtlich und dokumentiert auf knapp hundert chronologischen, selbst gebrannten und bis an die Kapazitätsgrenze mit eigenen Liedern aufgefüllten CDs und mit allen, nach CDs sortierten, Liedertexten auf meiner Webseite gerdschinkel.de, zu denen es auch ein alphabetisches Verzeichnis gibt. Ebenfalls zusätzlich gibt es - mit wenigen Überschneidungen - acht CDs mit Liedern für Kinder und Eltern. Thematische Sortierungen der Lieder, die sich in etwa an den „Säulen“ und „Stapeln“ orientieren, ergänzen die Archivierung.
Hinzukommen - mit seltenen Überschneidungen - knapp 30 CDs mit „recykelten“ Liedern. Bei diesen handelt es sich entweder um Übertragungen von Songs, Chansons, Canzones, Canciones aus anderen Sprachen - darunter auch in Konzentration auf knapp 20 fremdsprachige Singer/Songwriter, Chansonniers, Cantautores oder Cantantes, ausgewählt nach meiner Vorliebe - oder um übernommene Melodien, die von mir einen komplett neuen deutschen Text mit anderem Inhalt bekommen haben, der mit dem des Originals nichts mehr zu tun hat.
Die Verwertbarkeit der Lieder spielt eine untergeordnete, nahezu gar keine Rolle, weil ich die Lieder primär für mich schreibe und sie sich quasi selbständig ihren Weg aus mir heraus bahnen. Erst wenn ich ein Lied geschrieben habe, kann ich die Einschätzung versuchen, ob sie sich für Konzerte oder Auftritte, beispielsweise in politischen Zusammenhängen eignen. Erst dann kann ich sie bestimmten „Säulen“ oder „Stapeln“ zuordnen, um anzusehen, bei welchen Anlässen sie eine Chance haben könnten, in ein Programm zu kommen.
Eine Verwertbarkeit meiner Lieder in finanzieller Hinsicht, um daraus etwa meinen Lebensunterhalt zu sichern, hat seit dem Ende meines Jurastudiums 1979 beim Eintritt in das Berufsleben keine Rolle mehr gespielt. Die Überlegungen, ich könnte nach der Veröffentlichung meiner beiden Langspielplatten „Kein Grund zur Aufregung“ und Abrechnung“ Ende der 70er Jahre – die beide eher ein kommerzieller Flop gewesen sind – meine Leben einschließlich einer Familienplanung auf meine Liedermacherei stützen, hatte ich rasch ad acta gelegt. Ich wollte ohne existenzielle Sorgen leben und jeden Monat wissen, wie ich die Miete bezahle.
Außerdem war mir klar geworden, dass sich „die große Freiheit“ sicherlich nicht mit den Liedern, wie ich sie schreibe, „ersingen“ lassen könnte, da sie sich kommerziell kaum in ausreichender Weise vermarkten lassen würden. Also habe ich mich darauf eingelassen, einen „anständigen Beruf“ zu erlernen und mir durch eine abhängige Berufsausübung als Journalist, der auch mit Vorgesetzen und betrieblichen Zusammenhängen klarzukommen hat, die „große Freiheit“ in künstlerischer Hinsicht zu bewahren, so dass mir niemand in der Auswahl meiner Liederthemen und in die Umsetzung meiner Vorstellung beim Verfassen eines meiner Lieder oder beim Vortrag eines Liederprogrammes hineinreden kann. Dabei bin ich mein eigener Intendant.
Mir war klar, dass ich mich damit darauf einlassen würde, für meine künstlerische Arbeit als Liedermacher nicht so viel Zeit zu haben wie ein hauptberuflicher Liedermacher, und für das Schreiben meiner Lieder nur ein Restzeitbudget zur Verfügung stehen würde. Auch die Auftrittsmöglichkeiten würden durch Arbeitszeitregelungen in den Redaktionen, die sich kaum an meinen Interessen orientieren konnten, eingeschränkt sein.
Aber ich habe diese Weichenstellung nie bereut, zumal sie mir nach Ende meiner Berufszeit als festangestellter Journalist - nun mit Rentenbezügen - die „große Freiheit“ sichert, wann immer, wo immer und für wen auch immer meine Lieder zu singen, wie ich es will, unabhängig von Gagen oder Spesen, die ich zu verlangen genötigt wäre, wenn ich keine Rentenbezüge bekäme. Das ist eine unschätzbare wertvolle Unabhängigkeit.
Und so schreibe ich immer weiter meine Lieder in der Umsetzung meines ganz persönlichen Motivationsliedes, das ich mir schon als eines der ersten Lieder Anfang der Siebziger Jahre in der Übertragung des Songs „When I’m Gone“ von Phil Ochs geschrieben habe. Die letzte Strophe fasst die Quintessenz des Inhaltes zusammen:
„Kein Platz auf dieser Welt ist mein Zuhaus, nach dem Tod.
Niemals atme ich mehr ein und aus, nach dem Tod.
Bringe niemals mehr ein Lied heraus, nach dem Tod-
Drum tu ich’s besser noch solang ich hier.“
Aber mit welchen Erwartungen?
Die Welt, ihre Mängel, Defizite ihrer Bewohner, fehlende Menschlichkeit, mit Liedern beheben zu wollen, ist ein naives Unterfangen, dem kein Erfolg winkt. Erreichbar aber sind mit Liedern durchaus bei einzelnen Menschen Denkanstöße, Bestätigungen, Bestärkungen, Motivationen, Freude, Wohlgefühle, Zustimmungen, Mobilisierungen und Gefühle der Zusammengehörigkeit – ein Faktor, der einem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken kann.
Ich hoffe, dass ich mit meinen Texten das eine oder andere „Beharrlichkeit stützende Widerstands-, Motivations- und Mobilisierungslied“ schreiben konnte, und dass mir dies gelegentlich auch weiterhin noch eine Weile gelingt. Das ist für mich ein hinreichender Grund, noch nicht damit aufzuhören, Lieder zu schreiben, solange mir immer noch welche einfallen. Da können mich dann auch keine traumatisierenden Nackenschläge von Menschen, die für mich keine Wertschätzung erübrigen wollen, davon abhalten.
So habe ich es in meinem Lied „Für Euch“ im Refrain formuliert:
„Für euch singe ich am liebsten meine Lieder,
um euch Kraft und Mut zu geben, immer wieder,
dass wir nicht lockerlassen, uns entschieden wehrn,
auch wenn uns Ignoranten für verrückt erklärn.“
Eine andere Sache ist das mit dem Singen dieser Lieder. Jedes neue Lied bekommt bei mir die Chance, dass es von mir gesungen wird. Zumindest bei der Aufnahme, um es mit den mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auch als Melodie festzuhalten. Noten kann ich nicht, Musik aufschreiben deshalb auch nicht. Und vergessen möchte ich es nicht.
Manche Lieder sind für wiederholten Gesang, oder überhaupt für öffentlichen Gesang eigentlich auch gar nicht vorgesehen. Generell ist öffentlicher Gesang oder auch ein Liedervortrag vor einer Kamera – auch wenn es die eigene ist zur Erstellung eines Videos zum Beispiel für YouTube – eine Herausforderung, der ich mich inzwischen mit eher gemischten Gefühlen stelle, seit ich dem genetisch geerbten Tremor essentialis ausgeliefert bin. Ich sehe mich ungern unkontrolliert zittern. Diese sichtbare Hilflosigkeit macht mich ärgerlich. Dagegen Medikamente zu nehmen und die Nebenwirkungen auszuhalten, will ich nicht.
Gleichwohl mag ich mich noch nicht völlig von der Bühne oder vom öffentlichen Singen meiner Lieder verabschieden. Ich singe gerne, trete auch immer noch gerne auf, wenn ich das Gefühl habe, ich kann dabei Menschen „etwas bringen“, ihnen eine Freude machen, sie bereichern – und mich dabei geborgen und von Sympathie getragen fühlen. Wenn mir daran Zweifel kommen, genügt es mir, die doch noch interessierten Zuhörer mit meinem YouTube-Kanal oder meinen Tonträgern versorgt zu wissen.
Ohne ausdrückliche und wertschätzende Einladung zu einem öffentlichen Gesang meiner Lieder bei einem Auftritt oder gar Konzert werde ich nicht mehr öffentlich zu hören sein. Ich werden mich beherrschen, künftig jemals wieder einfach meine Gitarre und meinen Verstärker einfach in den Kofferraum einzupacken und, mich irgendwo, zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Demonstration, einer Kundgebung oder auch nur einem Wald- oder Dorfspaziergang, hinzustellen und meine Lieder zu singen.
Das war einmal und wird Vergangenheit bleiben. Ich kann mich aber erinnern, dass es eine Weile schön gewesen ist.
Gerd Schinkel, Köln, November 2023