Auslandsadoption: Vermittlung als Schicksalsspiel

Soviel wie möglich oder wie nötig?

Zu den Reaktionen auf das zweite Adoptivkind im Hause Schröder

Nachwuchs im Hause Schröder - wie auch immer. Er wird schon durchsetzen, dass dies nun auch, wie im vorhergehenden Fall, jeglicher Kritik enthoben ist und  als seine Privatsache zu gelten hat. Dieser Fall ist auch nicht das, was mich inzwischen am meisten irritiert, sondern es sind eher die adoptionseuphorischen spontanen Reaktionen von Adoptionswilligen kurz vor Toresschluss, die mich kopfschüttelnd vor dem PC sitzen lassen, wenn ich sie hie und da im Internet lesen kann. Während die Empörung so mehrheitlich in eine mir unverständliche Richtung schwappt, möchte ich hier mal gegen den Strich bürsten.

Die Chose hat mindestens zwei Seiten: Nicht nur die, dass mit diesem barmherzigen Akt der Nächstenliebe ein Waisenkind mehr aus Russland nun neue Eltern erhalten hat. Es gibt doch auch den Aspekt, dass mutmaßlich nicht darüber nachgedacht wurde, was in vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahren sein wird. Hat dann dieses pubertierende Kind oder jedes andere, das früher oder jetzt oder später in eine ähnliche Elternkonstellation kam oder kommt, für diesen schwierigen Lebensabschnitt noch die elterliche Begleitung, die man einem Adoptivkind wünschen möchte, das ohnehin in sehr verwirrenden Lebensumständen reichlich über seine Identität nachdenken dürfte. Oder wird man das Faktum der Adoption dann, wie in so vielen Ado-Familien, sogar solchen mit Auslandsadoptionen, lieber gar nicht ansprechen, weil man annimmt, man könne Identitätsprobleme so einfacher umgehen? Vorsicht, Familie Schröder und andere – Zeitungsarchive haben lange Erinnerungsvermögen, Nachbarschaften auch...

In manchen Foren wird sinngemäß forsch argumentiert, man solle doch bitte in der Adoptionsvermittlung endlich die ungerechten und sinnlosen Altersschranken fallen lassen und sich daran orientieren, wie lange denn eine biologische Elternschaft möglich sei. Das halte ich angesichts der biologisch-medizinischen „Fortschritte“ schlicht für pervers.

Wie alt war die „Oma“ in Rumänen, die vor nicht allzu langer Zeit nach künstlicher Befruchtung „älteste Mutter“ wurde? Es gibt einfach abstoßende Rekorde. Eine weitere betagte Dame in Großbritannien war nur unwesentlich jünger – beide waren weit über 60. Der von mir als Schauspieler aufrichtig verehrte Anthony Quinn war als er noch mal „auf natürlichem Wege“ Vater wurde (war es ein „Unfall“ oder geplant?) schon über achtzig. Medizinisch-technisch-biologisch könnte ich mir vorstellen, dass sich sogar noch Altersgenossen von Joopi Heesters, also Über-Hundert-Jährige, mit Viagra und sonstigen ärztlichen Hilfestellungen in Form bringen lassen könnten... Wollen wir das?

Was ich versuche, ist die Adoptionsfrage, insbesondere die der Auslandsadoptionen, so zu beleuchten, dass dabei mehr die späte Phase der Adoption von Adoptiveltern und Adoptionsbewerbern kritisch und vor allem selbstkritisch in den Blick genommen wird. Es ist die Phase, in der aus den süßen kleinen Kinder junge erwachsene Adoptierten geworden sind. Wenn ich von Problemen spreche, die mit Erreichen der Pubertät auftreten können oder auch später, dann meine ich nicht renitente Bockigkeit oder Aufsässigkeit, Leistungsabfall in der Schule, Desinteresse an allem, Abkapseln, Tattoo- oder Piercingwünsche oder sonstige Begleiterscheinungen der bösen, spannenden Pubertät, die manche vielleicht vor Augen haben, wenn von diesem facettenreichen Lebensabschnitt die Rede ist, und die manche für leicht wegsteckbar halten. Ich denke in diesem Fall gar nicht daran, wie viel Toleranz dann von Eltern gezeigt werden muss. Sie muss, das ist klar.

Mir geht es um die zentralen Fragen der Identitätsfindung, durch die, mal tiefer, mal flacher, jeder durch muss, egal ob adoptiert oder nicht: „Wer bin ich? Wo komm ich her? Wo geh ich hin?“ Nur: bei Adoptierten kann (natürlich: es muss nicht so sein, aber kann eben) die Suche nach den Antworten, vor allem wenn sich diese Suche als schwierig und kaum erfolgreich abzuschließen herausstellt, leichter zu ernsthaften Lebenskrisen führen. Da sind dann auch heftige Leidensphasen vorstellbar, ohne dass hänselnde Mitschüler ihre kindliche Grausamkeit offenbaren müssen. Und was dann gefragt ist, wenn man das mit der Adoption verantwortlich gemeint hat und man als Eltern für sein Kind da sein will, das sind, auch von alten Vätern, die zum Zeitpunkt der Adoption noch beeindruckend gut im Saft gestanden haben mögen, andere Elterneinsätze als Schaukeln anzuschubsen, und andere Merkmale als Toleranz.

Dann geht es nicht darum, mit Kindern herumzutollen oder Nabelpiercings und Technolärm zu tolerieren, sondern darum, durch Selbstfindungskrisen geschüttelte junge, verzweifelte Erwachsene zu trösten, aufzufangen, auch mit Rat und Tat zu coachen. Vielleicht geht es auch einfach nur darum, seinen erwachsenen Kindern, die vor Problemen stehen, die man selbst nie hatte oder haben wird, verständnisvoll zu begegnen, wenn sie das Gefühl haben, dass keiner sie mit ihrem Problem versteht, weil von denen, die ihnen nahe stehen, niemand am eigenen Leibe solche Situation erlebt hat, die man selbst als Adoptierter so bedrückend empfindet. Die Altersgenossen von Schröder, wenn sie denn im gleichen fortgeschrittenen Alter adoptiert haben, sind dann schon 80... Und ich muss ja wohl nicht darauf hinweisen, wie verbreitet inzwischen die Gebrechlichkeit im Alter ist, sodass die Pflegeversicherung schon jetzt hinten und vorn nicht ausreicht...

Wollen wir das ernsthaft als wünschenswert für Adoptivkinder, die ungefragt damit zu leben hätten, dass sich ihre Eltern an alttestamentarischen Vorbildern wie Methusalem zu orientieren scheinen? Wie wollen sich diese Eltern als Greise ausreichend um ihre Kinder kümmern? Wie will es der Ex-Kanzler machen? Ist er wenigstens dann zu Hause, wenn er in ein paar Jahren gebraucht wird? Ist er dann auch noch so belastbar wie jetzt in den diversen Aufsichtsräten, wenn es daheim in anderen Zusammenhängen rund um „seine Kinder“ erforderlich wird? Er vielleicht, aber auch all diejenigen, die ihm nacheifern wollen oder nun darüber lamentieren, dass man ihnen vorher mit dem Verweis auf das Alter verwehrt hat, was Schröder nun zugestanden wurde?

Na klar, die Gesellschaft wird immer älter, die Eltern kriegen ihre Kinder immer später – deshalb kommt es ja wohl auch so oft zum Fortpflanzungsstress kurz vor Toresschluss, weil das biologische Fenster sich unbarmherzig zu schließen beginnt. Klar, es kommt immer häufiger vor, dass Kinder Eltern haben, die bei der Geburt ihrer Kinder älter sind als es Eltern zu früheren Zeiten waren. Aber irgendwann ist eben  biologisch Schluss mit neuen Elternschaften, auch wenn die Lebenserwartung noch so hoch steigt. Da kann sich die Gesellschaft verändern wie sie will, und will sie auch daran etwas ändern, muss man der Biologie medizinisch-technisch nachhelfen, und dann wären wir wieder bei den Reagenzgläsern. Die Anzahl der Adoptionen entwickelt sich übrigens seit den Fortschritten in der Reproduktionsmedizin rückläufig.

Und dann werden schnell die Alternativen der Kinderbeschaffung abgeklappert, die es auch noch gibt: Adoption bitte gleich – bei wem geht es am leichtesten, am schnellsten, wer verspricht die kleinsten Kinder. Wie? Was? Sich auch noch lange überprüfen lassen? Und dann all die intimen Fragen... das ist ja Psychoterror... das ist ja entwürdigend... Sollen die doch dankbar sein, dass jemand überhaupt so ein Kind aus dem Heim aufnehmen will... Denkt doch an die Kinder... sollen sie etwa im Heim bleiben... Alles vor dem Hintergrund, dass die Uhr tickt, unbarmherzig... – natürlich, nicht nur für die adoptionswilligen Bewerber, sondern für die Heimkinder auch...

Wenn Paare mit drängendem Elternwunsch erst spät, fast zu spät darüber nachdenken, wie sie „an ein Kind kommen“ können, handelt es sich um einen Wettlauf mit der Zeit. Es geht um den Versuch, die letzte Chance nicht zu verpassen. Natürlich gibt es Fälle, in denen sich alles erklären und nachvollziehen lässt. Man muss aber nicht jeden Weg nutzen, um der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Warum haben sie nicht eher angefangen, sich entsprechende Gedanken zu machen? Ja gut, die nackte Existenzsicherung stand im Vordergrund, oder auch nicht. Wieso kommen sie erst dann auf die Idee, wenn ihre biologische Uhr kurz vor dem Ablauf der Batterie steht? War die Karriere wichtiger? Was ist daran heute verwerflich? War man mit dem Partner zu wählerisch? Soll man denn etwa den ersten Besten nehmen? War der Verzicht auf Kinder vielleicht das Qualitätskriterium für den schickeren Lifestyle? Wenn man erst spät damit beginnt, sich um eine Korrektur des bis dahin verfolgten Lebensentwurfs zu bemühen, kann der Kinderwunsch vielleicht doch so dringend nicht gewesen sein. Soll er nur die Besitztümer vervollständigen? Erst das Auto, dann das Haus – warum dann nicht doch noch ein Kind, oder zwei...? War erst mal An-Sich-Selbst-Denken angesagt?

Und hat man sich daran gewöhnt, rigoros an sich selbst zu denken, dann denkt man unbedenklich weiter an sich, auch beim verführerischen Gedanken daran, wie man den egoistischen Wunsch nach raschem Nachwuchs noch kurz vor Toresschluss, koste es, was es wolle, erfüllt bekommt. Was erdreisten sich die dann die Jugendämter, mit irgendwelchen Vorschriften Hürden aufzubauen? Es gibt doch so viele Heimkinder. Und wer sich biologisch fortpflanzt, wird ja auch nicht daraufhin überprüft, ob man als Eltern taugt...

Ich verstehe es nicht. Warum statt dessen kein konsequentes Abfinden mit einem Lebensentwurf, den man doch so lange schon für vorteilhafter angesehen hatte, und sich in die Kinderlosigkeit mit dem Selbstbewusstsein fügen, das man schon vorher in sich getragen hatte, vielleicht sogar wie eine Monstranz vor sich her trug... Man war sich doch lange Zeit vorher auch ohne Kinder selbst genug...

Ich halte den Vorgang rund um Schröders zweites „Russenkind“ eher deshalb für skandalös, weil offenkundig wird, wie mit genügend Beziehungen und Einfluss (und womöglich ausreichender Nachhilfe, wenn dies erforderlich wird) beschafft werden kann, was immer man möchte und was der pure Egoismus denjenigen in den Kopf gesetzt hat, die alle Möglichkeiten haben, diesen Kopf auch durchzusetzen.

Es gibt viele, die sich nun mitfreuen, so wie sie sich über jede neue Adoption mitfreuen, weil sie nur wahrnehmen, dass es wieder ein Heimkind geschafft hat, in eine Familie zu kommen. Freude teile ich gerne – aber mit wem und worüber? Die Freude, die in manchen Foren artikuliert wird, ließe sich auch freuen über jedes auf welche Weise auch immer adoptierte Kind. Dies schließe ich daraus, dass man so deutlich zeigt, für wie willkürlich und verfehlt man die geltenden strengen Regeln der Vermittlung hält, die sich die Jugendämter ja nicht aus reiner Schikane aus den Fingern gesogen haben. Dann könnte man sich auch über kriminelle oder halbkriminelle Beschaffungen „mitfreuen“. Mir vergeht da der Spaß an der Mitfreude.

Denkt zufällig auch jemand im Interesse der Kinder daran, wie deren Adoptiveltern später mal die Fragen ihrer Kinder nach dem Woher und Warum beantworten können, wenn sie dann überhaupt antworten wollen? Es sind die Kinder, die erwachsen gewordenen, die dann den Knacks kriegen, wenn die Antworten eher weitere Fragen aufwerfen, statt Lücken im Wissen um die eigene Biografie zu schließen. Denn Fragen stellen werden die Kinder. Und wer dies nicht wahrhaben will – mit Verlaub – bemüht sich nicht darum, für sein Kind verantwortungsvolle Eltern zu werden, sondern nur darum, sich ein Kind zu beschaffen, um sich dann als Eltern fühlen zu können. Gut dass da Vermittlungsorganisationen und Jugendämter dem mit ihren Regeln einen Riegel vorschieben können...  Wenn man nach Familienglück um jeden Preis strebt, sollte man bedenken, nicht jeder Preis ist zahlbar, und vor allem zahlt man ja oft nicht selbst. Später werden andere den Preis zu zahlen haben. Nach mir die Sintflut?

Die empörten Antworten derjenigen, die sich doch jenseits der 45 noch geistig und körperlich fit genug fühlen, um die Herausforderungen einer jahrelangen Elternschaft anzunehmen, sind absehbar: Warum können mich solche Reaktion auf das hier Geschriebene so gar nicht überraschen? Genau diese mehrheitlichen Reaktionen des Unverständnisses für das von mir Geschriebene habe ich mehr oder weniger erwartet. Ich schließe daraus, dass selbst noch so viele „mit Herzblut“ geschriebene Bemühungen darum, meinen Standpunkt begreiflich zu machen, vergeblich Liebesmüh sein dürften. Sei es drum – der Versuch soll es wert sein.

Ich bin auch längst älter als 45 und würde es mir – jetzt – auch noch gelegentlich zutrauen, an so einer Aufgabe körperlich und geistig nicht zu scheitern. Aber ich bin sicher, es gibt geeignetere Alters-Konstellationen für Eltern und Kinder. Denn die Frage bleibt ja im Grunde unbeantwortet: Was ist in ein paar Jahren? Ja dann, dann sind die Kinder doch groß und selbständig, und es gibt noch andere in der Familie, die Mutter ist ja noch da, weil sie soviel jünger war, außerdem gibt es ja Geschwister (wenn sie denn da sind). Und dann auch der Einwand, es könne doch auch jüngeren Eltern „was passieren“. Klar, passieren kann jedem jederzeit was. Aber man sollte doch bitte nicht so tun, als ob schicksalhafte Unglücksfälle und normale Alterungsprozesse gleichgesetzt werden könnten.

Ist es den Kindern wirklich zuzumuten, erst recht, wenn sie ohnehin durch ihr „Anderssein“ auffallen oder sich anders fühlen, dass sie mit Eltern „gesegnet“ sein sollen, die eigentlich längst ihre Großeltern sein könnten? Dies wird sie immer von ihren gleichaltrigen Mitschülern unterscheiden. („Ach, das war nicht dein Opa...?“) Will man den Egoismus vielleicht auch noch so weit treiben, dass sich das „Adoptivkind“ schließlich im Erwachsenenalter kaum noch von der „fürsorglichen adoptivelterlichen“ Umklammerung befreien kann und unter dem Erwartungsdruck auf lebenslange Dankbarkeit – inklusive Versorgung – schier psychisch zusammenbricht? Sage mir niemand, sowas gebe es nicht. Die Adoptionswelt steckt voller unglaublicher Fälle, wie wir sie uns nie hätten vorstellen können...

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin nicht grundsätzlich gegen Adoptionen, auch wenn wir inzwischen hinter Auslandsadoptionen nach unseren Erfahrungen mit eigenen Adoptivkindern (die positiv waren!!!) aufgrund deren Sicht auf das Problem ein Fragezeichen setzen würden. Und wir stehen als Adoptiveltern mit erwachsenen Adoptivkindern mit dieses Sinneswandel nicht allein da. Unser engagiertes Eintreten für das kontrollierte Herholen von Waisenkindern war unter vielen Aspekten blauäugig. Auslandsadoptionen sollten dann erfolgen, wenn sie nötig sind und gut vorbereitet und begleitet werden, und nicht schon dann, wenn sie möglich sind, weil es genügend Eltern gibt, die bereit sind, ein Kind zu adoptieren. Nicht alles, was möglich ist, ist auch nötig. Bewerber gibt es hinreichend. Aber es gibt kein Recht, das einen Anspruch auf Vermittlung eines Adoptivkindes gibt.

Wir haben jahrelang in unterschiedlichen Funktionen in der ehrenamtlichen Vermittlung von Adoptivkindern bei der Auswahl von Bewerbern mitgewirkt, bei denen die Entscheidungsgremien der Organisationen, für die wir tätig waren, in geprüften Einzelfällen das Vermittlungsrisiko glaubten übernehmen zu können. Und damit komme ich auf einen gewaltigen Unterschied zu sprechen, der nun mal besteht zwischen Adoptivkindern und leiblichen Kindern. 

Bei eigenem Nachwuchs müssen sich Eltern natürlich keiner Überprüfung unterziehen. Selbstverständlich könnte man – wenn Mann denn noch kann und Frau auch noch - diesen Nachwuchs wie Anthony Quinn oder andere fitte Greise selbst zeugen, obwohl die mutmaßliche Lebenserwartung so aussieht, dass inzwischen manche Kreditinstitute ihren Kunden am Rande des Rentenalters und älter, so agil sie auch sein mögen, kaum noch ein Darlehen gewähren möchten, weil sie das Verlustrisiko scheuen für den Fall, der Kunde könnte vor der vollständigen Rückzahlung dahinscheiden. Auch dies ist übrigens ein gesellschaftliches Faktum, das man nicht gut finden muss, aber zur Kenntnis nehmen sollte. Auch das gehört zur steigenden Lebenserwartung, trotz Gleichstellungsgesetz und Brüsseler EU-Vorgaben und Verbot, an ein fortschreitendes Alter Benachteiligungen zu knüpfen. Man darf doch auch nicht Ungleiches gleich behandeln...

Bei der Adoptionsvermittlung dagegen passieren eben keine biologischen Vorgänge, die in schicksalhafte Ergebnisse münden (kleines Baby für relativ alte, aber immer noch fortpflanzungsfähige Eltern), sondern hier spielen Menschen nicht nur mit dem Schicksal, sondern selbst Schicksal, und zwar durch eine „Vereinbarung zulasten Dritter“: Adoptionsvermittler und Adoptionsbewerber entscheiden darüber, dass ein bestimmtes, von Menschen ausgesuchtes Kind zu bestimmten, von Menschen ausgewählten Adoptiveltern kommt, und das heißt dann mit ihnen lebenslang – zumindest bis es erwachsen ist - verbunden bleiben soll.

Das ist eine Menge selbst auferlegter Verantwortung, und da halte ich es nicht nur nicht für falsch, sondern für zwingend, dass sich Überwachungsinstanzen wie z.B. Jugendämter darüber Gedanken machen, durch welche Richtlinien man Folgerisiken verringern kann, z.B. dass es schief gehen könnte und man dem Kind Adoptiveltern verschafft hat, die völlig daneben sind: Eltern z. B., die in ihrer Kindesbegeisterung früher oder später so zu klammern beginnen, dass dem Adoptierten die Luft abgeschnürt wird, also jede Entfaltungsmöglichkeit nach eigenen Vorstellungen genommen ist.

Sage niemand, das gibt’s nicht. Wir kennen mehr Fälle, als wir für möglich hielten. Fälle, in denen Adoptiveltern in ihrem Liebesentzug gnadenlos wurden, nur weil sich das „Kind“ partout anders entwickeln wollte, als es die „Eltern“ in ihrem Plan, in ihren Vorstellungen vorgesehen hatten oder für richtig hielten. Als ehemals an der Vermittlung Beteiligter fragt man sich dann natürlich, ob man dies nicht hätte absehen, an Indizien erkennen können. Man fragt sich, wo man versagt hat und damit am Leid des/der Adoptierten mitschuldig geworden sein könnte. Ist es da nicht verständlich, dass man sich, im Interesse der Adoptivkinder, selbst wenn sie bei der Vermittlung noch Babys gewesen sein sollten, darüber Gedanken macht, welche Hypothek man ihnen mit der Vermittlung in dieses oder jenes Adoptivelternhaus aufgebürdet hat?

Und spätestens dann wird die Frage nach der grundsätzlichen Alternative gestellt: Sollen denn die Kinder in einem Heim „dahinvegetieren“? In Armut bleiben? Ohne emotionale Zuwendung? Alle Fachleute raten doch dringend davon ab... Okay – ich auch. Die Frage nach der Alternative ist spannend. Ich hab sie selbst früher immer wieder gestellt im Streit bei terre des hommes, als es 1987 darum ging, die Mitgliederversammlung davon abzuhalten, die Adoptionsvermittlung drastisch zugunsten vorbeugender Angebote und Hilfen für Mütter einzuschränken. Man dürfe doch nicht nur „den Brunnen abdecken“ (also statt Adoptionsvermittlung nur noch präventive Mütterarbeit machen), damit „keine Kinder mehr in den Brunnen fallen“ (ausgesetzt werden) – man müsse doch auch „die schon in den Brunnen gefallenen Kinder“ (die bereits verlassen wurden, elternlos sind) herausholen (zur Adoption vermitteln). Denn ein Heim sei ja keine Alternative, und überhaupt, wer behaupte denn, dass man die Kinder aus ihrem Kulturkreis herausreiße – im Waisenhaus, im Slum, in der Gosse gebe es doch gar keine Kultur...

Diese Argumente kenne ich, habe sie selbst lang genug verwendet, und auch nicht als erster. Man rutscht ja nach in der Vermittlungsarbeit, bis man irgendwann den Stab weiterreicht. Nur: Damals gab es noch weniger Erfahrungen mit den Adoptionsverläufen von Adoptierten, die das Erwachsenenalter schon erreicht hatten. Inzwischen kann man da mehr sagen, von den Erfahrungen der erwachsenen Adoptierten profitieren – und auch lernen und gegebenenfalls die Dinge anders sehen als früher, auch wenn’s schwer fallen sollte.

Eine Familie ist besser als ein Leben im Heim – stimmt, unterstell ich mal. Aber muss diese Familie wirklich hier sein, wenn das Kind doch von so weit herkommt? Muss es gerade diese Bewerberfamilie sein, wenn es jene doch auch gibt, in der die Belastbarkeit, die Offenheit für eine von Elternprojektionen unbelastete Entwicklung vielleicht größer ist als in der anderen... Wenn die zwischengeschalteten Vermittler dort im Lande vielleicht nur mit dem Auftrag handeln, den Behörden ein teures, unbequemes „Waisenproblem“ abzunehmen, es ins Ausland abzuschieben und so aus der Welt zu schaffen.... Und ist wirklich jede Familie besser?

Bei Abwägung aller Risiken und Nebenwirkungen der Adoption, die auf den Adoptierten zukommen können, ist die Entwicklung von Vermittlungskriterien zur Sortierung der geeignetsten Bewerber von den weniger geeigneten doch nur selbstverständlich und doch wohl auch für jeden nachvollziehbar. Das sollte dann eben auf der Verpackungsbeilage stehen. Man weiß dann doch, eigentlich ja auch durch einfaches Nachdenken ohne ausdrückliche Erwähnung, worauf man sich bei der Bewerbung einzulassen hat. Da hat es doch keinen Zweck, den Text der „Verpackungsbeilage“ zu ignorieren, ihn sogar neu verfassen, ins Gegenteil kehren  zu wollen. Und wie kommt man in diesem Zusammenhang wohl auf die Altersfrage bei den bewerbern? Genau – auch Adoptivkinder werden älter, so wie die Adoptiveltern, und wenn die Krisen dann da sind, kann man bei alten Eltern nur hoffen, dass die Demenz noch nicht so weit fortgeschritten ist und sie sich immer noch daran erinnern, dass da ja mal Kinder waren...

Insofern ist es völlig richtig, dass sich die Vermittler in verantwortlich handelnden Organisationen und in Jugendämtern im Rahmen einer sorgfältigen Auswahl der Bewerber an Kriterien orientieren, die den Interessen der zu vermittelnden Kinder entsprechen, nicht nur kurzfristig, sondern auch auf lange Sicht. Wir hoffen, dass dies immer der Fall ist – und wissen mehr als dass wir es nur ahnen, dass es nicht immer so ist. Das Interesse der künftigen Adoptiveltern halte ich für absolut zweitrangig, denn das Ziel der Vermittlung muss doch im Interesse der Kinder immer sein, für Waisenkinder geeignete Eltern zu finden, und nicht etwa für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch schnellstmöglich und auf unproblematischstem Wege den ersehnten Nachwuchs aus zweiter Hand. Doch gerade der zweite Weg ist der, mit dem sich gut Geld verdienen lässt, was zum Glauben oder gar zur Überzeugung führt, mit Geld sei alles machbar. Manche strengen Vorschriften sind übrigens dazu da, genau dies zu verhindern. Zweifelt immer noch jemand am Sinn dieser Vorschriften?

Ich möchte beim „Schicksal-Spielen“ der Adoptionsvermittlern und Bewerbern klare Regeln vorfinden, damit die zu vermittelnden künftigen Adoptivkinder als „Spielfiguren“ nicht beliebig übers Brett gekegelt oder von Mitspielern zu hart angepackt oder vernachlässigt werden, oder dass die Wahrscheinlichkeit größer als nötig ist, dass Mitspielern vor Ende des Spiels die Puste ausgeht und sie die Würfel nicht mehr halten können.

Mir kommt es darauf an, dass man sich in der Diskussion mal in die Schuhe der Adoptierten stellt (ohne dabei immer noch wie Adoptiveltern zu denken!), die Sache mal aus ihrer Perspektive sieht, sensibel wird für Probleme, die man als neue Adoptiveltern (egal ob jung oder alt) jüngerer Adoptivkinder so ungern in den Blick nimmt, vielleicht auch nicht sieht, womöglich aber auch nicht sehen oder wahrhaben will, weil sie unangenehm werden können. Mitnichten habe ich vor, irgendjemanden durch Pauschalierungen zu verletzen. Klar gibt es nachvollziehbare Lebensläufe, bei denen alles erklärbar ist, warum die Nachwuchsfrage sich erst später gestellt hat. Aber die Frage muss doch erlaubt sein, wie lange es ratsam ist, dem Schicksal hinterherzulaufen, noch dazu, wenn damit Folgen für Dritte (Adoptierte) heraufbeschworen werden. Ein Kind ist kein Hobby wie die späte Entdeckung, dass einem Aquarellmalerei Spaß macht...

Ich habe den Eindruck, dass manche in der Diskussion zu leichtfertig in der Verharmlosung der Probleme sind, die nicht wenige Adoptierte mit ihrer Identitätsfindung und auch mit ihren Adoptiveltern haben. Und ich meine nicht nur solche Fälle, in denen ein so besitzergreifend „stickiges“ Familienklima besteht, dass sich die Adoptierten nicht trauen, das Thema Wurzelsuche und Klärung der eigenen Herkunft auch nur anzusprechen, aus Angst, damit könnten bei den Adoptiveltern Wunden geschlagen werden, die die Adoptierten auf keinen Fall schlagen möchten, aus tiefer Liebe zu den Adoptiveltern, oder auch nur, um nicht für undankbar gehalten zu werden... Auch dies kann übrigens die Folge von bedenkenloser Annahme eines Kindes und Liebe zum Kind sein – aber in falsch verstandenem Sinne. Kann man sich vorstellen, wie sehr Adoptierte in solch einer Situation leiden? Oder kümmert dies in der Adoptionseuphorie der Antragstellung und der ersten, gut verlaufenden Jahre erst mal gar nicht, was in zwei Jahrzehnten sein kann? Hauptsache erst mal adoptieren... auf Teufel komm raus, und wenn zwei Bewerber abgeschreckt abspringen oder abgelehnt werden, gehen zwei Waisenkindern leider die potentiellen Eltern verloren...

Nein, ich halte die geltenden Regeln und Gesetze für richtig, wenn nicht gar für zu lasch. Und halte es für einen Skandal, dass sie unter Umständen für wen auch immer ausgehebelt werden können. Ich halte es schon für empörend, wenn in diesen Zusammenhängen der Eindruck entstehen kann, vor dem Gesetz wären nicht alle gleich. Und die Postings, die ich im Zusammenhang mit Schröders neuerlichem Familienzuwachs in manchen Foren lesen konnte, machen mich streckenweise fassungslos und ratlos.

Ich habe – mal überspitzt gesagt – aus den vielen engagierten Reaktionen, vor allem aus dem, was ich zwischen den Zeilen glaubte lesen zu können, den Eindruck gewonnen, dass sie im Kern nur eine Botschaft enthielten: Behalte deine Bedenken gefälligst für dich, denn wir wollen sie nicht hören und jetzt adoptieren oder uns nach erfolgter Adoption keinen unnötigen Kopf machen. Komm uns deshalb gefälligst nicht mit Gift und Galle in die Quere.

Ja gut, dann bin ich eben mit meiner Ansicht konservativ und schrecklich moralisch und passe nicht in die Zeit. Jeder ist sein eigener Messi und wird genug Schubladen finden, um wegzusortieren, was man nicht mehr im Blick haben will. Ich hab auch meine Schubladen und kann sie nach meinen Kriterien füllen. Vielleicht bin ich in dieser Galligkeit auch politisch unkorrekt und lasse es mitten in dieser reizbehafteten Thematik zu knurrig an sprachlicher Sensibilität fehlen. Wer sich daran aufhalten mag, ohne den Kern der Anregungen wahrnehmen zu wollen – bitte sehr.

Wenn es sich in der Mehrheit der Adoptionseuphoriker um so „perfekte“ Adobewerber/Eltern handelt, die es sich glauben leisten können, Bedenken, die mal aus anderem Blickwinkel formuliert sind, bedenkenlos und mit leichter Hand vom Tisch zu wischen, hab ich an sie nur eine Bitte:

Druckt Euch die Mail wenigstens aus, legt sie zu den Adoptionsunterlagen und lest sie nicht erst wieder durch, wenn Eure Adoptivkinder genau mitten in den Problemen stecken. Und ich hoffe, dass Ihr dann für die Mitbewältigung dieser Probleme immer noch jung und agil genug seid und nicht Eure Kinder– biologisch unvermeidlich – sich selbst überlassen habt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jüngere Eltern dann noch vorhanden sind, ist – rein statistisch – jedenfalls größer, und gereift sind die dann inzwischen sicherlich auch...

Gerd Schinkel, im August 2006