WENN DER VORHANG FÄLLT

 

Wenn der Vorhang fällt,

die Souffleuse schweigt,

jeder Scheinwerfer verlischt,

wird die Linse trüb

und das Bild verschwimmt,

und der Nebel wird zur Nacht.

 

Szenen aus bedruckten Seiten,

wie vom Leben ausgedacht,

aufgesogen, einstudiert,

dargestellt und vorgemacht,

mit derselben dreisten Freiheit,

wie ein Narr sie einst genoss,       

der am Hof mit seinem Spott

Fürst und Lakaien übergoss.

 

Wenn der Vorhang fällt

und der Beifall rauscht,

klappt die letzte Seite zu,

und die Spannung löst

sich in Atem auf,

der die Brust mit Leben füllt.

 

Lachen, jubeln, zürnen, schweigen,

offen laut und leis versteckt,

demaskiert von wachen Augen,

aus den Sesseln aufgeschreckt.

Phantasievoll auf der Bühne

spöttisch durch den Wolf gedreht.

Nackt, entblößt und unbeschönigt,

jeder Schleier fortgeweht.

 

Wenn der Vorhang fällt,

unbeweglich hängt,

und in Samt die Bühne hüllt,

wird die Schminke feucht,

weil das Auge tränt,

die Fassade weich zerfließt.

 

Wer den Spiegel nicht erträgt,

sieht nicht gern in sein Gesicht.

Wer den Narren nicht erdulden mag,

wenn er die Wahrheit spricht,

von der Bühne ihn vertreibt

und ihn aus den Mauern jagt,

der sinkt selbst in einen Kerker,

hat verloren, hat versagt.

 

Wo fühlt jener sich wohl, der das Tageslicht flieht,

sich im Halbdunkel auskennt, da alles sieht, was geschieht.

Seine Haut sprüht er jeden Morgen

mit Duftwasser ein, damit er besser riecht.

 

Er weiß, was er will, sortiert Recht von Schlecht.

Er lässt sich nichts sagen und hat immer Recht.

Und so sprüht er sich jeden Morgen

frische Düfte ins Haar, damit er besser riecht.

 

Schmallippig hört er Kritik, besonders wenn sie ihm gilt.

Dann zielt er unter die Gürtel, und wird er fuchsteufelswild.

Und er schwenkt sich selbst jeden Morgen

frischen Weihrauch ums Haar, und merkt nicht, wie er stinkt.

 

Mag er das tun, was er will. Er suhlt im eignen Mist.

Soll er an seinem Trog schmatzen, bis er sich überfrisst.

Braucht ers fürs Leben, wolln wirs ihm geben:

Gülle in Hülle und Fülle, bis er daran erstinkt.

 

Wenn der Vorhang fällt,

zur Kulisse wird,

vor der die Spieler noch mal stehn,

sich das Auge füllt,

weint und lachen will,

ins Blütenmeer die Bühne taucht,

 

wenn die Seitentürn sich öffnen,

aber doch noch keiner geht,

wenn der Beifall rasend tobt,

nicht enden will und jeder steht,

und weit draußen die beschämt,

die sich aus dem Kleingeist nährn.

Die verleugnen, was sie sind

und um Wahrheit sich nicht schern.

 

Wenn der Vorhang fällt,

leer die Reihen sind,

jeder Platz verlassen bleibt,

falln die Türen zu,

dann ist alles still

und vorbei das letzte Spiel.

 

Kloß geschluckt und wohl verstanden,

durchgeblickt, im Zorn erregt.

Amüsiert, gut unterhalten

und in tiefstem Herz bewegt.

Narren ziehen ihrer Wege,

abgeschminkt, im Alltagskleid,

sehn den Hofstaat, die Fassade,

fühlen Freude, Liebe, Leid.

 

Wer vertrieben wird, zieht weiter,

lässt zurück, was ihn nicht will.

Und es wechseln Nacht und Nebel,

und auf Fragen bleibt es still.

 

Copyright Ab Ende der 70er Jahre, immer wieder bearbeitet bis 2003 Gerd Schinkel

 

Ende der siebziger Jahre hatten Martina und ich das Vergnügen, am Stuttgarter Schauspielhaus einige Inszenierungen von Claus Peymann und seinem Ensemble zu erleben. Wie danach nie wieder waren wir gepackt von der Kraft und Spielfreude, die über die Bühne kamen. Und dann bat Claus Peymann am Schwarzen Brett der Kantine des Staatstheaters um eine Spende für eine Zahnbehandlung der im Stammheimer Hochsicherheitstrakt inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Was folgte, war eine beispiellose Hetzjagd gegen den linken Intendanten, der mit seinem frechen und respektlosen Theater für viele im gar nicht so liberalen Schwabenland längst zum roten Tuch geworden war. Auch ein für CDU-Verhältnisse liberaler CDU-Oberbürgermeister Manfred Rommel konnte oder wollte am Ende Peymann nicht mehr halten.

Der Chef des Schauspielhauses zog mit fast seinem gesamten Ensemble nach Bochum - ein Aderlass, von dem sich das Stuttgarter Schauspielhaus jahrzehntelang nicht erholt hat. Mein Lied war der Versuch einer Art Suite, mit der ich nach der letzten Vorstellung meine Dankbarkeit für so manches unglaublich schöne Theatererlebnis ausdrücken wollte. Geschrieben habe ich das Lied über einen längeren Zeitraum hinweg Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, bis zu letzten Korrekturen 2003.