MUTATION

 

In meiner Straße lebt ein Mann,

der wohnt im Nachbarhaus.

Weil er immer sehr beschäftigt tut,

geht er auch recht selten aus.

Neulich sah ich ihn nach langer Zeit.

Er schien ein wenig bedrückt:       

Seine Haut war voll dunkelgrauem Flaum,

und sein Gang war gebückt.

 

Mensch, dachte ich mir, was ist dem passiert?

Womit hat er sich bloß eingeschmiert?

Sein Anblick hat mich leicht geschockt,

drum hab ich mich hintern Vorhang gehockt

 

Da konnt ich dann in seine Wohnung sehn –

ich war neugierig, wie ihr versteht.

Seine Haut wurde grauer - ihm wuchs ein Fell.

Zum Rasieren war es schon zu spät.

Die Schneidezähne wurden lang und spitz,

Nase und Ohren auch.

Am Hintern wuchs ihm ein glatter Schwanz.

Er rutschte nur noch auf dem Bauch.

 

Mensch, dachte ich mir, was ist mit ihm los?

Ist er ernsthaft krank? Was mach ich bloß?

Doch wollte ich nicht, dass er mich auch ansteckt.

Darum habe ich mich lieber versteckt...

 

Er vergitterte die Fenster, zog die Kleidung aus,

nagte ein Loch in die Wand,

machte sich glatt die Beine voll,

reichte ihm einer die Hand.

Er knabberte nur Möhren, zog ein Halsband an,

wenn er mal vor die Türe kroch.

Doch wenn ihn einer beim Namen rief,

verzog er sich in sein Loch.

 

Mensch, dachte ich mir, was ist mit ihm los?

Ist er ernsthaft krank? Was mach ich bloß?

Doch wollte ich nicht, dass er mich auch ansteckt.

Darum hab ich mich noch besser versteckt.

 

Ein Bekannter hat es mir erzählt.

Er sagte was von „Experiment“,

der Entwicklung einer Art „Menschentier“,

die man „mus caput demittens“ nennt.

Auf Deutsch wird sie die „Duckmaus“ genannt –

man forscht an einer Art „Mutation“.

Wenn das Rückgrat schwach wird und der Druck sich verschärft,

dann beginnt die Veränderung schon.

 

Mensch, dachte ich mir, du musst etwas tun.

Lass dich sofort impfen, du darfst nicht ruhn!

Aufgeregt bin ich aus dem Haus gehetzt,

auf die Straße - und ich war entsetzt...

 

Kaum ein Mensch war noch normal:

alle grau, gebuckelt und scheu.

Manche in verschiedenen Stadien,

die Veränderung oft noch neu.

Mein Bekannter hat mich noch mal aufgeklärt.

Er sagte: „Das ist Zucht!

Das Ergebnis ganz bestimmter Politik.

Sag mal selber: Das ist doch ne Wucht!“

 

Mensch, dachte ich mir, hör ich noch gut?

Dann wächst und wächst ja die Duckmausbrut.

Tatsächlich - es gab keinen Widerstand

gegen die Entwicklung im Land.

 

Die Duckmäuserei wurde ganz normal

und als solche nicht mehr erkannt.

Wer sich von selbst nicht anglich,

war mit Berufsverbot bald gebannt.

„Sei keine Duckmaus!“ - So hieß es nun.

„Sei aktiv gegen jede Kritik!

Dass bei uns die Meinungsfreiheit siegt –

Wählt die Duckmäusezucht-Politik.“

 

Das, liebe Leute, klang es auch schlimm,

das war kein Märchen der Brüder Grimm,

auch kein Science-Fiction. Seht euch nur um:

So viele gehn heute schon krumm...

 

Copyright Ende der 70er Jahre Gerd Schinkel

 

Der Text entstand unter dem Eindruck einer Karikatur aus dem Satireblatt „Pardon“, die zwei Forscher im Labor vor einem großen Käfig zeigte. Angesichts des „Prachtexemplare“ von zwei riesigen Mäusen hinter Gittern mit dem Hinweisschild „Duckmäuse“ gratulierten sie sich gegenseitig zu ihrem Beitrag zum „Zuchterfolg“ durch die richtige Politik. Eine andere „Anregung“ zu diesem Lied hätte auch ein Aufkleber der „Jungen Union“ sein können, der Mitte der siebziger Jahre verteilt wurde (und den ich sogar noch habe!): Darauf stand: „Sei keine Duckmaus! Aktive gegen Radikale im öffentlichen Dienst“... Mir fiel der Aufkleber allerdings erst in die Finger, als ich den Text schon im Jahre 1976 geschrieben hatte.