Harrisburg-Syndrom

oder Störfall in Stade

 

Die haben aber doch gesagt, es könnt nichts passieren.

Die haben aber immer gesagt, es könnt nichts geschehn.

Man sollte die Gefahren bloß nicht dramatisieren...

Wieso war das nun möglich – wer kann das verstehn?

Mit den Lautsprechern melden sie grade: „Störfall in Stade!“

Alle Kinder und schwangere Fraun sollten besser abhaun.

Man ist schon dabei, den Reaktor zu reparieren -

aber vorsorglich wird erwogen, Hamburg zu evakuieren...

 

Schnell ein paar Sachen in den Koffer, dann ab in die Heide.

Der Autotank ist schon halbleer – der reicht nicht mehr lang.

Gib dem Tankwart, dass er sich beeilt, Omas goldnes Geschmeide.

Zu spät - denn die Autoschlange ist schon kilometerlang...

Aus dem Radio ertönt es grade: „Störfall in Stade!“

Alle Kinder und schwangere Fraun sollten besser abhaun.

Man versucht, das radioaktive Gas zu absorbieren -

 

Chaos auf den Ausfallstraßen, panische Leute -

pausenloses Hupen - an der Kreuzung hat es gekracht.

Jeder ist sich selbst der Nächste in dieser Meute

und geht dabei über Leichen, bis er sich aus der Gefahr gebracht.

In den Nachrichten melden sie gerade „Störfall in Stade“.

Alle Kinder und schwangere Fraun sollten besser abhaun.

Man bemüht sich noch zur Zeit, die Kontrolle nicht zu verlieren -

aber vorsorglich wird erwogen, Hamburg zu evakuieren...

 

Zwei Millionen unterwegs – nur nicht nach Westen.

Keiner weiß wohin – nur weg, nur weg aus dem Loch.

Vorbei an leeren Luxusvillen und leeren Palästen -

die Geldsäcke sind schon lange weg –wir ahnten es doch...

Und noch mal hören wir grade: „Störfall in Stade!“

Alle Kinder und schwangere Fraun sollten besser abhaun.

Man will zur Gefahrbehebung noch etwas probieren -

aber vorsorglich wird erwogen, Hamburg zu evakuieren...

 

Dann ist nichts mehr zu machen. Das Gas kann durch Ritzen entweichen.

Eine radioaktive Wolke regnet sich ab.

Der Wind kommt von Westen – wann wird uns die Wolke erreichen?

Nur weiter - bloß weg! Gib Gas, und das nicht zu knapp!

Wieder mal ertönt es grade: „Störfall in Stade!“

Alle Kinder und schwangere Fraun sollten besser abhaun.

Zwar hatte noch die ganze Stadt versucht, zu emigrieren -

aber leider war es schon zu spät... Hamburg...   

 

Copyright 1978 Gerd Schinkel

 

Als der Störfall im Atomkraftwerk "Three Mile Island" bei Harrisburg in Pennsylvania/USA passierte (1978 oder 1979, genaues Datum hab ich auch nicht; kann man vielleicht über das Internet / Spiegelarchiv herausbekommen), hatte kurz danach "Der Spiegel" einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Folgen für die Umgebung des Kernkraftwerks Stade bei einem vergleichbaren Störfall durchgespielt hatte.
Auf einer Karte, die mich sehr beeindruckte, wurde um das Kernkraftwerk Stade ein Kreis geschlagen, der so groß war wie das zur Evakuierung vorgesehene Gebiet bei Harrisburg. Und siehe da: Ein großer Teil von Hamburg lag innerhalb des Kreises. Nun fiel der Westen als Fluchtrichtung aus, weil dort das Kernkraftwerk liegt. Der Osten war nicht sonderlich geeignet, wegen der nahen innerdeutschen Grenze. Ich hab mir einfach mal ein Szenario vorgestellt, wie so etwas ablaufen könnte und wie die Gefahren- und Beschwichtigungsdurchsagen sich wohl anhören könnten. Als Melodie habe ich eine Tonfolge genommen, die sich auf eine leichte Abwandlung der Anfangsakkorde eines alten Sweet-Titels aus den siebziger Jahren singen lässt. Der Sweet-Song heißt "Love Is Like Oxygen".
Das Kernkraftwerk Stade ist ja immer wieder in der Diskussion gewesen, weil es als ältestes KKW zur Stilllegung vorgesehen war. So lautete jedenfalls die Forderung der Grünen. Die Betriebszeit sollte ja laut Kompromiss zwischen  Regierung und Kraftwerksbetreibern begrenzt sein. Geschrieben 1979