DIE ELBE

 

Sie reckt sich und streckt sich im Bett, macht sich lang,             d

nach Süden zunächst, dann dreht nordwärts ihr Drang.              d

Seit ewigen Zeiten hat sie ihren Lauf.                                     d/B d/C

Selbst wer sie zu bremsen wüsst, hält sie nicht auf.                   d

Ihr Wasser trägt klaglos so manches als Last,                           d

Gefährliches, Nutzloses, macht keine Rast,                               d

zwängt sich durch Schluchten und Täler mit Macht,                   d/B d/C

was oben sie mitnimmt, wird runter gebracht.                           d

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6

 

Oft genug fühlt sie sich eng eingezwängt,

zu tief ausgebaggert und zu sehr gelenkt,

wenn man so ihrn Auslauf nimmt, neben dem Bett,

und sie fest einschnürt ins schmale Korsett.

Dann wird von der nassen Flut, die sie geschluckt,

ein kräftiger Schwall aus dem Bett raus gespuckt.

Sie zeigt ihren Unmut, wenn sie sich nass wehrt,

hemmungslos die pralle Reizblase leert.

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6


Nimmt man ihm die Kurven, beschleunigt den Fluss,

dann kann er nicht anders – man zwingt ihn, er muss,

fließt schneller dem Meer zu, gewaltig in Fahrt:

Naturgewalt, die keine Fassung bewahrt.

Verweigert man der den verlangten Respekt,

läuft sie halt über, zeigt, was in ihr steckt.

Wenn mancher sich hinterm Deich sicher geglaubt,

nimmt sie sich bloß wieder, was man ihr geraubt.

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6


Unaufhaltsam vom Scheitel der Flut überspült,

der Deich aufgeweicht, vom Wasser durchwühlt,

Wiesen, Felder und Wege getränkt,

über Stufen geklettert, durch Ritzen gezwängt,

Häuser geflutet, Menschen verjagt,

Fleh’n überhört und Gnade versagt.

kein' Deut drum geschert, ob’s fatal, ob's gerecht,

unsinnig, töricht, gemein oder schlecht.

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6


Wer sie begradigt, mit Hybris versucht,

sie halbwegs zu bändigen, der ist verflucht.

Ufer ist dehnbar und Wasser braucht Platz.

Mancher Verlust findet keinen Ersatz.

Kann man sie bändigen? Hat man die Wahl?

Bringt denn nicht jeder Versuch neue Qual?

Sie holt sich nur wieder, was man ihr nimmt,

Die Flut reißt es weg, ganz egal ob es schwimmt.

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6


Zieht man auch Lehren? Hilft man mit Verstand?

Was kann Geld allein? Was die kräftige Hand?

Und ein Schulterschluss nützt nur, wenn dann auch gelingt,

was bislang misslungen – und wenn es was bringt,

sich zu arrangier’n, man dem Wasser nicht trotzt,

und mit Kräften, die fehlen, nicht prahlt oder protzt.

Wer weiß, was er will, doch nicht, was es bewirkt,

merkt, wenn er es macht, dass es Risiken birgt.

 

Schuld ist mitnichten die Elbe,                                                F

wenn sie weit ins Land sich ergießt.                                        d

Längst ist sie nicht mehr ein und dieselbe,                                F

auch wenn sie noch der Nordsee zufließt.                                 d

Statt ihr Wasser und sie zu verfluchen,                                    g

weil sie wegspült, was mühsam erbaut,                                    d

könnt man sorgsam nach Schuldigen suchen,                            g

und die findet, wer sorgfältig schaut.                                      A9A6

 

Copyright 2013 Gerd Schinkel