Kinderklau

 

Schon länger als ihr halbes Leben

sucht sie ihr Kind, so früh verlorn.

Hätts nie freiwillig hergegeben.

Man nahm es ihr, kaum wars geborn.

Sie war noch jung: Grad 13 Jahre.

Beim ersten Mal gleich wars passiert.

Details, die ich mir hier erspare:

Wer Liebe sucht, Liebe probiert…

 

Dass sich nach Monaten was regte,

in ihrem Körper sich was tat,

sich nach und nach in ihr bewegte:

Was interessierte das den Staat?

Die Stasi kommt, fängt an zu quälen,

mit Helfern, willig und devot.

Die junge Mutter kann nicht wählen,

wird eingeschüchtert und bedroht.

 

Gestohln, geraubt, entrissen –

Kinderklau, gleich nebenan.

Ungesühnt, wills einer wissen?

Denn die sind noch immer dran.

Und sie hauen ihre Stempel

menschenverachtend auf Papier

im selben Bürokratentempel.

Handlanger damals, und noch hier…

 

Auf harter Pritsche die Entbindung.

Sofort nimmt man das Kind ihr weg.

Fragt nicht nach ihrer Schmerzempfindung.

Behandelt sie wie feuchten Dreck.

Erst Tage später darf sie wissen:

Woanders hats ihr Sohn doch gut.

Und sie weint nächtelang ins Kissen.

Wer weiß, wie weh es ihr noch tut...

 

Nach Wochen dann ein warmer Regen.

Woher kommt plötzlich so viel Geld?

Ihr Vater nimmts, hat nichts dagegen.

Wenns Leben leicht wird, das gefällt.

Der Kinderraub ist längst besiegelt.

Das Jugendamt der Stasiarm.

Die Tochter hat sich eingeigelt:

Fühlt sich verkauft, verraten, arm.

 

Gestohln, geraubt, entrissen –

Kinderklau, gleich nebenan.

Ungesühnt, wills einer wissen?

Denn die sind noch immer dran.

Und sie hauen ihre Stempel

menschenverachtend auf Papier

im selben Bürokratentempel.

Handlanger damals, und noch hier…

 

Nach Jahren geht die Staatsmacht unter.

Die Zeit der Stasi – aus, vorbei.

Das graue Leben: Langsam bunter.

Sie geht auf Suche, fühlt sich frei.

Will wissen, wo ihr Sohn geblieben.

Rennt gegen Mauern. Jeder schweigt.

Grad die ins Unglück sie getrieben:

Niemand von denen Mitleid zeigt.

 

Die ihr den Sohn eiskalt gestohlen,

tun heute so, als wärs nicht wahr.

Unmissverständlich wird empfohlen:

Find dich mit ab. Was war, das war.

Und ihre Klagen zu nichts führen:

Geraubt der Sohn, zwangsadoptiert.

Man droht ihr, ja nicht dran zu rühren.

Die alte Seilschaft funktioniert.

 

Gestohln, geraubt, entrissen –

Kinderklau, gleich nebenan.

Ungesühnt, wills einer wissen?

Denn die sind noch immer dran.

Und sie hauen ihre Stempel

menschenverachtend auf Papier

im selben Bürokratentempel.

Handlanger damals, und noch hier…

 

Doch sie bleibt dran, lässt sich nicht schrecken.

Es hilft ein Zufall, wie so oft.

Ein Anruf reicht, um zu entdecken:

Nichts ist verlorn, solang man hofft.

Sie weiß nun, wo ihr Sohn geblieben,

der sie nicht kennt, sein Leben lebt.

Sie hat ihm einen Brief geschrieben.

Nicht abgeschickt - nur zugeklebt...

 

Gestohln, geraubt, entrissen –

Kinderklau, gleich nebenan.

Ungesühnt, wills einer wissen?

Denn die sind noch immer dran.

Und sie hauen ihre Stempel

menschenverachtend auf Papier

im selben Bürokratentempel.

Handlanger damals, und noch hier…

 

Copyright 2006  Gerd Schinkel

 

Das Lied „Kinderklau“ ist die Geschichte von Kati: 1972 in Berlin geboren, kam sie nach der Scheidung ihrer Eltern zum SED-Vater und den Großeltern in Thüringen. Unaufgeklärt wurde sie mit 13 schwanger und bekam am 31.10 1986 im Krankenhaus Schleiz ein Kind, das sie nach der Niederkunft nicht sehen durfte. In einer kriminellen Zusammenarbeit zwischen Staatssicherheit, Krankenhaus und Jugendamt wurde ihr das Kind vorenthalten und mit Billigung ihres Vaters und für den Gegenwert einer neuen Kücheneinrichtung zur Adoption freigegeben. Zufällig erfuhr sie 1989/1990 Einzelheiten zum Verbleib des Kindes in Ziegenrück und 2003 Details zum Namen, dem Aussehen und dem Leben ihres Sohnes. Eine nachträgliche offizielle Aufklärung der Zusammenhänge scheiterte lange an der selben diensthabenden "Fachfrau" im Jugendamt Schleiz, die zwei Jahrzehnte vorher als willige Helferin der Stasi ihren Stempel unter den Vorgang gesetzt hatte und dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurde.